Mobilitätsstationen: Wird das eigene Auto überflüssig?

https://www.bayern-innovativ.de/de/seite/ueber-bayern-innovativ Laut dem Deutschen Institut für Urbanistik verknüpft eine Mobilitätsstation verschiedene Mobilitätsangebote an einem Standort, indem sie den Übergang zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln vereinfacht, umweltverträgliche Transportmittel stärkt und eine Mobilität ohne eigenen Pkw ermöglicht. Die ersten Mobilitätsstationen gibt es bereits seit 20 Jahren. Das Ziel, Mobilität nachhaltig zu gestalten, ist heute aktueller denn je. In unserem Interview erklärt Nicolai Harnisch, Leiter Vernetzte Mobilität bei Bayern Innovativ, wie Mobilitätsstationen einen Beitrag zur Mobilitätswende leisten können.

eHUBS Individualverkehr


Nicolai, woran arbeitet ihr im Bereich “Vernetzte Mobilität” genau und was hat es mit diesen Mobilitätsstationen auf sich?

Nicolai: Wir sind seit knapp vier Jahren Partner im Projekt eHUBs, ein von der EU gefördertes Projekt, in dessen Rahmen in zehn verschiedenen europäischen Städten Mobilitätsstationen in Betrieb genommen wurden und beforscht werden.

Wie kann man sich das vorstellen? Was für Städte sind das genau?

Nicolai: Dabei handelt es sich um einen ganz guten Mix aus Großstädten wie Amsterdam und Manchester sowie auch kleinere Städte, wie Löwen in Belgien zum Beispiel, oder Kempten in Bayern. Wir haben auch ländliche Regionen wie Wallonien, aber auch Städte mit unterschiedlichen Mobilitätskulturen. Die “Lead” Stadt ist Amsterdam, mit der man automatisch Fahrrad und eine Offenheit für neue Mobilität verbindet. Wir haben aber zum Beispiel die Stadt Dublin dabei, die sehr autozentriert ist - also, wie gesagt, sowohl große und kleine Städte, als auch progressivere Städte im Sinne von neuen Mobilitätsformen und traditionelle autozentrierte Städte.

Geht es bei den Mobilitäts-Hubs bzw. -Stationen nur um Radverkehr oder welche Formen von Mobilität finde ich da?

Nicolai: In der Theorie kann das sehr vielfältig sein. Hier im Projekt sind das dann vor allem Fahrräder sowie auch E-Autos. Ein wichtiger Schwerpunkt in dem Projekt ist auch das Thema Lastenfahrradsharing bzw. E-Lastenfahrradsharing. Die Scooter, die wir hier an allen Orten sehen, werden im Projekt eher nebensächlich behandelt. Das hat aber auch damit zu tun, dass die Scooter noch gar nicht überall so weit verbreitet sind. In UK zum Beispiel haben wir noch gar keine Straßenzulassung, also dort gibt es kein Scootersharing und im Jahr 2019, als das Projekt gestartet ist, war man in dem Thema E-Scootersharing auch noch nicht so weit. Der Fokus liegt auf Bikesharing, vor allem E-Bikesharing, Lastenfahrradsharing und E-Autosharing.

Somit kann ich mir die Mobilität suchen, die ich gerade brauche?

Nicolai: Genau, das hängt aber auch von der Stadt in dem Fall ab, inwieweit diese Angebote dann auch in den ÖPNV integriert sind. Im Fall von Manchester ist es so, dass das Projekt von der dortigen Verkehrsorganisation betrieben wird. In anderen Städten ist es tatsächlich die Stadt, die das Projekt vorantreibt. Das Thema Integration spielt dann natürlich auch noch mit hinein, um diese ganzen Shared mobility Angebote als Erweiterung des ÖPNV zu etablieren.

Wo liegen denn die größten Herausforderungen? Wo merkt ihr, da hakt was?

Nicolai: Ich denke, die größte Herausforderung liegt grundsätzlich darin, mit den Angeboten, die man schafft, die richtigen Zielgruppen zu erreichen. Schließlich möchte man am Ende des Tages ja gewisse Ziele erreichen: weniger Autoverkehr, weniger Parkdruck, weniger Emissionen und auch Lärmbelastung zum Beispiel, und das erreiche ich nur, wenn ich Autofahrende adressiere. Nicht aber, wenn ich vornehmlich Personen adressiere, die ohnehin mit dem Fahrrad unterwegs sind oder die eine Affinität für solche Angebote haben und selbst gar kein Auto haben. In diesem Fall könnten solche Angebote tatsächlich sogar den gegenteiligen Effekt erzeugen. Wenn ich Carsharing zur Verfügung stelle, aber letztendlich niemanden dazu bewegen kann, sein eigenes Auto abzuschaffen, dann habe ich am Ende nur mehr Autos.

Was dazu führen würde, dass sich die Platzknappheit in Städten noch weiter zuspitzt…

Nicolai: Genau. Das ist die grundsätzliche Herausforderung, einfach die richtigen Zielgruppen zu erreichen. Das Thema haben wir mit dem Lastenfahrradsharing auch. Es gibt schon einige Städte in Bayern, die auch Lastenfahrradsharing haben, und da kommt es darauf an, zu betrachten, welchen Zweck dieses Verkehrsmittel erfüllt, welche Use Cases bedient so ein Verkehrsmittel, und dementsprechend muss ich es auch positionieren. Ich war kürzlich erst in einer kleineren Stadt unterwegs, die auch eine Art Mobilitätsstation angeboten hat, u.a. mit einem Lastenfahrradsharing, aber in einem Industriegebiet in der Nähe vom Uni Campus. Da frage ich mich, wer soll dieses Lastenfahrrad nutzen? Lastenfahrräder nutzen eigentlich in der Regel Familien, um Einkäufe zu erledigen oder ihre Kinder zum Spielplatz oder zum Kindergarten zu bringen. Hier sollte man genauer darauf achten, welche Ziele ich erreichen möchte. Aktuell stellt sich für viele Städte, die in dem Projekt beteiligt sind, die Frage, wie schaffe ich es über dieses Projekt hinaus einen Regelbetrieb zu gewährleisten? Was häufig bei derartigen Projekten der Fall ist. Man bekommt eine Förderung für einen gewissen Zeitrahmen und wenn die Förderung ausläuft, müssen sich diese Angebote als ökonomisch tragbar erweisen. Was für Kommunen teilweise schwierig, aber natürlich auch schade ist, wenn man ein Angebot, das man zuvor mal geschaffen hat, wieder zurücknehmen muss, weil man keinen Regelbetrieb gewährleisten kann.

Schauen wir uns das Projekt nochmal etwas näher an. Welche Aspekte schaut ihr euch an, wie evaluiert ihr?

Nicolai: Also, das Projekt besteht natürlich einerseits darin, die Pilot Hubs aufzubauen und zu betreiben. Dies hat sehr viel Zeit in Anspruch genommen und wurde auch durch die Corona-Pandemie ziemlich erschwert. Was auch die Verfügbarkeit von Fahrzeugen betraf. Daneben ist die schon erwähnte Begleitforschung ein wichtiger Aspekt. Da wird einerseits natürlich aus verkehrswissenschaftlicher Perspektive geschaut, wo gute, geeignete Standorte für solche Hubs sind, basierend auf der Siedlungsstruktur, auf dem Verkehrsaufkommen und anderen Faktoren. Andererseits müssen bzw. wollen wir auch evaluieren, ob die Hubs tatsächlich einen positiven Effekt auf die CO2 Emissionen in einer Stadt haben Weiterhin wird das Thema Geschäftsmodelle untersucht: Wie muss ich denn ein Hub-Netzwerk so organisieren und strukturieren, damit es tatsächlich ein gutes Geschäftsmodell werden kann? Schließlich geht es auch darum, wie ich dann eigentlich die Leute dazu bekomme, eine Mobilitätsstation als Alternative zum eigenen Pkw zu nutzen – hier sind wir mit einem verhaltenspsychologischen Lehrstuhl der Uni Amsterdam dabei, das zu erforschen.


Welche Rolle spielt Bayern Innovativ konkret in dem Projekt?

Nicolai: Wir bei Bayern Innovativ haben einerseits, gerade zu Beginn des Projekts, die Stadt Kempten als eine der Pilotstädte beim Aufbau der Mobilitätsstationen unterstützt. Andererseits sind wir als Gesellschaft für Innovation und Wissenstransfer auch in diesem Projekt für den Wissenstransfer zuständig, d.h. es wurde in dem Projekt einerseits ganz viel wissenschaftlich erforscht und auch in Form von Papern und anderen Dokumenten veröffentlicht; andererseits wurden sehr viele Erfahrungswerte gewonnen und unsere Aufgabe ist es eigentlich, dieses Wissen zu verbreiten und so einer größeren Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Dafür haben wir den Blueprint entwickelt, also eine Art “Blaupause”, um die Replikation des Modells der Mobilitätstation anderen Kommunen zu erleichtern. Dieser Blueprint ist als kostenfreier Online Kurs im Internet zugänglich und ist in zehn Module strukturiert. Damit bildet er einen Planungsprozess von einer Mobilitätsstation ab und beleuchtet verschiedene Aspekte: was ist überhaupt eine Mobilitätsstation? Wie kann eine Mobilitätsstation ausehen? Wie finde ich den oder die geeigneten Standorte ? Wie begleite ich so eine Mobilitätsstation marketingseitig bzw. öffentlichkeitswirksam, um möglichst viele Nutzergruppen zu erreichen? Dieser Online Kurs steht allen Interessierten zur Verfügung, richtet sich jedoch vornehmlich an Kommunen und dem Mobilitätsmanagement. Der Blueprint wird aktuell nochmals überarbeit und in einer neuen Form zum Download angeboten.

Somit lässt sich quasie mit dieser Blaupause mein eigener Mobilitäts-Hub vor Ort bauen?

Nicolai: Blaupause ist an der Stelle vielleicht ein bisschen schwierig, weil jede Stadt anders ist und jede Stadt andere Bedarfe hat und natürlich auch andere Gegebenheiten, geografisch wie demografisch aber auch politisch. Der Blueprint soll, aber eine Orientierung liefern sowie Vorbilder und best practices aufzeigen. Somit erhält man einerseits eine Ansammlung von best practices und wissenschaftlich basierten Forschungsergebnissen, die in Summe eine Handreichung und eine Orientierung liefern sollen.

Das Projekt befindet sich in der Endphase - Wie geht es dann weiter?

Nicolai: Das übergeordnete Ziel ist, dass man natürlich dieses Prinzip Mobilitätsstationen, wenn es sich den als erfolgreich erweist, in den einzelnen Städten über ganz Europa hinweg repliziert und skaliert. Hier versuchen wir letztendlich die im Rahmen des Projekts gewonnenen Erkenntnisse in die Breite zu tragen. Also, einerseits natürlich der Blueprint, andererseits wurden auch in anderen Arbeitspaketen wichtige grundlegende Vorarbeiten geleistet, wie in der Region Wallonien. Da sieht es wohl aktuell so aus, als würden dort im Rahmen der Projektlaufzeit keine Hubs mehr entstehen, weil diese einen enorm komplexen politischen Entscheidungsprozess durchlaufen müssten. Sie haben aber stattdessen ein Framework entwickelt, das es zumindest in Wallonien Entscheidungsträgern erleichtern soll, diesen Planungsprozess schneller zu durchlaufen. Das ist natürlich auch eine wichtige Vorlage für andere Regionen in Belgien, aber auch in anderen Ländern in Europa. Es gibt darüber hinaus auch Nachfolgeprojekte, die nochmals andere Aspekte rund um Shared Mobility untersuchen. So wurden im Rahmen des Projekts auch im Bereich digitale Integration einige wichtige Dinge vorbereitet, wie z.B. die Entwicklung eines Datenstandards oder einer offenen Schnittstelle.

Usability, also die Nutzerfreundlichkeit, ist auch ein ganz wichtiger Punkt für den Erfolg des Projekts. Wie kann sich so ein Shared Mobility Projekt schließlich etablieren?

Nicolai: Ja, absolut. Die Übernahme in den Regelbetrieb ist natürlich ein kritischer Punkt. Hier spielt zum Beispiel auch das so genannte Peer-to-Peer Sharing eine wichtige Rolle. Das heißt, man incentiviert und fördert als Kommune die E-Fahrzeuge, die dort Sinn machen. Das hat natürlich den Vorteil, dass ich mir einerseits Kosten teilen kann und andererseits die Auslastung der Fahrzeuge verbessere. Man lernt dadurch auch, wie es weitergehen kann und wie Shared Mobility dann doch funktionieren kann. Wenn es nicht das klassische Sharing ist, weil der Markt einfach nicht da ist, dann ergeben sich vielleicht andere Möglichkeiten.

Und das Konzept kann auch im ländlichen Raum funktionieren, wie man z.B an der Region Wallonien sieht.

Nicolai: Richtig, es kann funktionieren, auch wenn es kein Selbstläufer ist und die Rahmenbedingungen natürlich im ländlichen Raum weitaus schieriger sind. Klar ist, es gibt einen hochen Preisdruck, d.h. ich muss ein sehr niedriges Preisangebot machen und gleichzeitig ein sehr hohes Volumen verkaufen im Sinne von “ausleihen” und Minuten, die gebucht werden, und da bieten große Städte mit einer hohen Bevölkerungsanzahl und -dichte natürlich einen besseren Markt als kleine Städte. Es kann aber funktionieren, wie man am Beispiel von Kempten sieht. Man muss nur herausfinden, wie, und dabei versuchen wir natürlich zu helfen.

Genau, einerseits hilft der Blueprint und andererseits unterstützt ihr persönlich und auch in Form von Veranstaltungen.

Nicolai: Sinnvoll ist es auch, sich von Vorbildern inspirieren zu lassen, das ist auch eine wichtige Funktion, die dieses Projekt übernimmt. Das haben wir mit den zehn Städten gezeigt, die eine große Vielfalt repräsentieren. Hier lohnt es, einfach mal zu schauen, wie das dort funktioniert hat bzw. welche Schritte dort unternommen wurden. Das kann schon sehr hilfreich sein.

Vielen Dank, Nikolai für diesen spannenden Einblick in ein europaweites Projekt, das Shared Mobility in die großen Städte, aber auch in die ländlichen Regionen bringen möchte.


Hören Sie sich das vollständige Interview als Podcast an:



Machen Mobilitätsstationen das eigene Auto überflüssig?

"Eine Mobilitätsstation verknüpft verschiedene Mobilitätsangebote an einem Standort. Damit ist das Ziel verbunden, den Übergang zwischen verschiedenen Verkehrsmitteln zu vereinfachen, umweltverträgliche Transportmittel zu stärken und eine Mobilität ohne eigenen Pkw zu ermöglichen.“ so sagt es das Deutsche Institut für Urbanistik. Christoph Raithel spricht mit dem Experten Nicolai Harnisch darüber, wie Mobilitätsstationen einen Beitrag zur Mobilitätswende leisten können.

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