Nicolai, was hat sich durch Corona grundsätzlich verändert?
Nicolai Harnisch: Wir haben vier Veränderungen beobachtet. Erstens: Das Mobilitätsaufkommen hat sich vor allem im Frühjahr 2020 an manchen Tagen im Vergleich zum Vorjahr um bis zu 60 Prozent verringert. Das liegt insbesondere an den Lockdownmaßnahmen – wie z. B. Schulschließungen, Kontakt- und Ausgangsbeschränkungen. Aber auch Homeoffice und Kurzarbeit haben ihren Teil dazu beigetragen.
Zweitens: Schaut man sich die Verteilung des Verkehrsaufkommens auf die verschiedenen Verkehrsmittel an, dann sind von dieser Verringerung besonders die Verkehrsmittel betroffen, in denen Social Distancing schwieriger zu befolgen ist und demnach ein höheres Infektionsrisiko befürchtet wird. Das betrifft u. a. Shared Mobility Services und in besonderem Maße den ÖPNV.
Drittens: Folglich haben Fahrräder einen regelrechten Boom erfahren. Das Fahrrad bietet schließlich den Vorteil, dass das Infektionsrisiko gering ist und die Bewegung hinzukommt, die uns im Lockdown und Homeoffice fehlt.
Viertens: Gleichzeitig hat sich das private Auto aus Hygiene- und Flexibilitätsgründen wieder zum Transportmittel Nummer eins entwickelt – eine für das Klima und unsere Städte eher negative Entwicklung.
Somit kann der ÖPNV als großer Verlierer in der Pandemie bezeichnet werden?
Nicolai Harnisch: Ja, das kann ich so bestätigen. Grundsätzlich transportiert der ÖPNV eine große Anzahl an Menschen auf sehr engem Raum. Damit fühlen sich unter den gegebenen Bedingungen viele Pendler besonders zu Stoßzeiten unwohl. Hinzu kommt, dass der ÖPNV durch Kurzarbeit, Homeoffice und eingeschränkten Schulbetrieb Abo-Kunden verliert. Ebenso schmerzhaft ist der Verlust von Privatreisenden aufgrund von Reisebeschränkungen und Grenzschließungen.
Wie kann der ÖPNV das Vertrauen zurückgewinnen?
Nicolai Harnisch: Das Wichtigste ist die Einhaltung der Hygienemaßnahmen: Gewährleistung der Maskenpflicht, regelmäßiges Desinfizieren der Oberflächen und Lüften, wann immer es möglich ist - bestenfalls an jeder Station. Ebenso wichtig ist die Aufrechterhaltung des Fahrtakts trotz reduzierter Fahrgastzahlen, damit das Fahrgastaufkommen bestmöglich entzerrt wird. Hilfreich könnten hierbei digitale Tools sein, über die der Fahrgast z. B. die aktuelle Auslastung bzw. Auslastungsprognosen für bestimmte Uhrzeiten abrufen kann. In manchen Bereichen ist auch eine Angebotserweiterung erforderlich. Denkbar wären z. B. Kooperationen mit Sharing-Anbietern, gerade zu Tageszeiten, zu denen das ÖPNV-Angebot reduziert ist. Ein weiteres wichtiges Thema ist “flexibles Ticketing/Pricing”. Das ist besonders interessant in Hinblick auf die schon angesprochenen Abo-Kunden. Viele von ihnen fangen vielleicht jetzt schon zum Rechnen an “Lohnt sich das Jahresabo noch, wenn ich aktuell hauptsächlich im Homeoffice bin? Wenn ich vielleicht auch künftig nur noch ein oder zweimal die Woche ins Büro fahre?” Ein unkompliziertes, flexibles und bedarfsorientiertes Ticketing- bzw. Pricing kann hier Lösungen bieten.
Mara, Ihr habt eine Roadmap erarbeitet, die eine mögliche Zukunft von Gesellschaft und Mobilitätssystemen skizziert. Was können sich unsere Leser darunter vorstellen?
Dr. Mara Cole: Wir haben mit unseren Kollegen aus dem Beratungsfeld Technologie- und Innovationsmanagement das Thema “Urbane Mobilität Post Corona in 2030” gewählt, da es bei einer Roadmap immer wichtig ist, einen konkreten Zeithorizont zu definieren. Nach der Themenfindung haben wir in mehreren Workshops mit Experten viele verschiedene Elemente gesammelt, die die Mobilität der Zukunft beeinflussen. Unsere Ergebnisse haben wir schließlich strukturiert in Form einer Roadmap dokumentiert. Diese Roadmap bietet Unternehmen nun ein strategisches Planungstool, mit dem sie ihre eigenen Produkte und Dienstleistungen auf Zukunftssicherheit hin testen können.