Resilienz in der Luftfahrt - Handlungsfähig bleiben

03.02.2022

Die Zukunft der Mobilität ist nicht nur grün, vernetzt und vom ÖPNV geprägt, sondern vor allem auch resilient. Die Erfahrungen der Covid-19-Pandemie und andere Schockereignisse haben gezeigt, wie anfällig das Mobilitätssystem sein kann. Die Luftfahrtbranche hat sich über Jahrzehnte ausgiebig mit technischer Resilienz und dem Zusammenspiel zwischen Mensch und Maschine beschäftigt. Sandra Linder, Flight Safety Officer und seit 15 Jahren Berufspilotin, berichtet über Resilienz in der Luftfahrt und warum der Mensch den Unterschied macht.

Resilienz in der Luftfahrtbranche
Resilienz in der Luftfahrt - Handlungsfähig bleiben!


Sandra, wo begegnet Dir in der Luftfahrtbranche der Resilienz-Begriff?

Sandra Linder: Der Begriff wird bei uns in der Fliegerei schon lange verwendet, weil wir eine sogenannte Hochrisiko-Branche sind, ähnlich wie die Medizin . Zudem hat die Corona-Thematik das Ganze noch einmal befeuert. In unserer Branche ist es enorm wichtig, mit Unvorhergesehenem umgehen zu können – resilient zu bleiben. Mit diesem Thema müssen wir besonders in den Cockpits gut umgehen und in gewissen Situationen handlungsfähig bleiben, da dort das Risiko und der finanzielle Schaden enorm wären. Dabei müssen wir uns mit folgenden Fragen beschäftigen: Wie können wir Unvorhersehbares erkennen und dabei handlungsfähig bleiben? Was können wir aus bisherigen Situationen lernen?

Beim Arbeiten mit automatisierten Systemen gibt es die Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine. Auch dort kann es immer wieder zu unvorhergesehenen Ereignissen kommen, oder?

Sandra Linder: Absolut. Es ist unsere tägliche Arbeit, uns mit der Maschine zu befassen und gleichzeitig im Team zusammenzuarbeiten, um gemeinsam mit zwei oder sogar manchmal drei Menschen die Maschine so gut wie möglich zu bedienen. Und das ist eine sehr komplexe Maschine, gerade, wenn nicht mehr der Standardfall vorherrscht, sondern Fehlerausfälle oder Triebwerksausfälle eintreten. Die Maschinen haben sich, wie auch unsere Computer, im Lauf der Jahre weiterentwickelt und sind redundant ausgelegt. Dabei gibt es verschiedene Methoden, um hierbei die größte Redundanz oder Resilienz herzustellen. Aber auch wir Menschen im Cockpit haben eine enorme Entwicklung in den letzten 40, 50, 60 Jahren in der Fliegerei gemacht.

Inwiefern hat sich der Job der Piloten und Pilotinnen über die Jahrzehnte verändert?

Sandra Linder: Von der technischen Seite kann man sagen, dass es verschiedene Methoden gibt, wie unsere Systeme ausgelegt sind. Bei der Flugzeugherstellung neuer Modelle lernt man jetzt aus den früheren Fehlern. So sind z. B. Systeme strikt getrennt, wie beispielsweise die Bord-Elektronik, die in Kabine und Cockpit unterteilt ist. Obwohl man die Elektronik auf den gleichen Weg nutzen könnte, hat sich herausgestellt, dass es einfach zu anfällig ist, auch mit Blick auf Cyberangriffe .
Zudem arbeiten wir mit Autopiloten. Wir haben zwei Systeme, die sich gegenseitig ergänzen. Der eine übernimmt sofort, wenn der andere nicht kann. Wenn es z. B. in Richtung Navigation oder Positionsbestimmung geht, haben wir sogar drei Systeme, die unabhängig voneinander arbeiten und die sich untereinander abgleichen. Jedes der drei Systeme errechnet eine Position, an der wir uns vermeintlich befinden. Sobald das System oder unser Flugzeug feststellt, eine der drei Positionen ist fehlerbehaftet, dann wird diese ausgeschlossen.
Was man allerdings immer sagen kann, ist, dass der Mensch die letzte Instanz ist. Der Pilot im Cockpit bekommt alle Informationen auf einen Blick. Seine Aufgabe ist es, aus den ganzen Systemen, wie sie in diesem Moment funktionieren, das Beste zu machen und auch die Oberhand und somit die Kontrolle zu behalten. Natürlich haben wir uns als Pilotinnen oder Piloten ebenfalls immer weiterentwickelt.
Wir kommen aus einer militärisch geprägten Historie, in der Piloten die Helden der Luftfahrt waren, meist Einzelkämpfer. In den Militärmaschinen war anfänglich immer nur ein Pilot, deshalb waren andere Qualitäten gefragt. Und da ist der Umgang mit Fehlern ein ganz anderer gewesen als später. Als es dann um die Zweimann- oder Dreimann-Cockpits ging, hat man am Anfang versucht, Fehler so gut es geht zu vermeiden. Es wurde gesagt, ein Pilot muss so gut ausgebildet sein, dass er keine Fehler macht. Man hat das auch eine Zeit lang versucht und festgestellt, dass es nicht funktioniert.
Die Maschinen wurden mit der Zeit immer besser, es gab aber nach wie vor – gerade in den 70er Jahren – schwere Unglücke. Und letztendlich hat man beschlossen, genauer hinzuschauen und die menschliche Fehlerhaftigkeit im Cockpit zu thematisieren. Wir können die Fehler nicht immer vermeiden, aber wir dürfen sie auch nicht unter den Teppich kehren, sondern müssen lernen damit bestmöglich umzugehen. Es war ein enormer Weg, den wir Anfang der 80er Jahre eingeschlagen haben.

Eine gelebte Fehlerkultur ist also wichtig, um das System resilienter zu machen. Was steckt noch dahinter?

Sandra Linder: Ein Nebenaspekt spielt wie immer das Geld: Wir leben in einer Zeit, in der wir enormen finanziellen Zwängen unterworfen sind, was eine sehr große Herausforderung für die Redundanz oder auch das Lernen ist. Es ist schwierig, Mittel für etwas zur Verfügung zu stellen, das irgendwann einmal passieren könnte. Hier ist Überzeugungsarbeit gefragt.
Was aus meiner Perspektive aufgrund meiner langjährigen Erfahrung elementar ist, ist, den Menschen in den Mittelpunkt zu stellen. Letztendlich ist es egal, wie die Systeme sich entwickeln, denn der Mensch macht den Unterschied, er steht im Fokus und ist derjenige, der handeln muss. Mittlerweile ist die Transformation in die Richtung gegangen, den Menschen als Chance im Cockpit zu begreifen. Es ist wichtig sich zu fragen, was können wir aus Vorfällen, Unfällen und Fehlern in unserer Branche lernen, um den Menschen im Vorfeld bestmöglich vorzubereiten.
Irgendwann hat man angefangen, die Arbeit im Cockpit zu analysieren und sich gefragt:

  • Worauf müssen wir da achten?
  • Wie funktioniert die Kommunikation?
  • Was ist dazu nötig?
  • Wie entsteht eine Botschaft?
  • Wie treffen wir Entscheidungen?

Zudem ist es wichtig, über Hierarchien nachzudenken. Wir hatten in der Fliegerei eine unheimliche Hierarchie. Die Kapitäne waren auf einem hohen Podest gestanden und oftmals hatten die Co-Piloten sich nicht getraut, gewisse Dinge anzusprechen. Das wurde sehr stark beleuchtet und letztendlich wurde sogar eine gesetzliche Verpflichtung daraus gemacht, dass jeder Pilot jedes Jahr ein Training durchlaufen muss.

Neben einer guten Ausbildung und dem gezielten ehrlichen Training, ist eine positive Fehlerkultur wichtig, die es erlaubt zu scheitern, Fehler zu machen und transparent, ehrlich sowie offen funktioniert. Dabei geht es nie darum, herauszufinden, wer Schuld oder Recht hat. Uns interessiert nur, dass wir den Fehler korrigieren und künftig möglichst vermeiden.

Sandra Linder Flight Safety Officer und seit 15 Jahren Berufspilotin


Wenn man diese Erfahrung auf ein resilientes Verkehrssystem anwendet, müsste man dann auch aus der Perspektive derjenigen denken, die einen E-Scooter, ein automatisiertes Taxi-Shuttle usw. nutzen, um z.B. Unfälle zu reduzieren?

Sandra Linder: Ja, dies ist in meinen Augen ein wesentlicher Faktor. Ich bin keine Expertin im Bereich des autonomen Fahrens. Ich zähle eher zu den Anwendenden und Beobachtenden. Aber ich staune ehrlich gesagt darüber, dass ein ungeübter Autofahrer, der nur wenig über sein System des Autopiloten weiß, letztendlich allein damit ist und somit aus meiner Piloten-Perspektive die letzte Instanz darstellt.
Aus meiner Sicht ist eine Ausbildung, und/oder ein fundiertes Wissen über ein System essenziell, um mit solchen Dingen umzugehen. Es gibt neben der technischen immer noch die zweite Kompetenz. Das ist der Mensch, der die Übersicht behalten sollte und natürlich auch gewisse Fähigkeiten braucht im Umgang mit diesen neuen und komplexen Technologien.

Kannst Du noch näher ausführen, wie ich mit ungewissen Dingen umgehen kann?

Sandra Linder: Es sind zwei Themen, die wir in unserer Aus- und Weiterbildung – gerade auch im Simulator-Training – aufgenommen haben. Wir haben z. B. Triebwerkausfälle oder Landungen mit viel Wind trainiert. Es waren Ereignisse, die wir schon erlebt hatten. Dann haben wir gemerkt, dass wir für auf diese Fälle gut vorbereitet sind. Aber was ist mit Situationen, die wir uns nicht vorstellen können und die nie geübt wurden? Daraufhin haben wir den Ansatz gewählt, gewisse Kompetenzen und Verhaltensweisen zu entwickeln. Wir haben also wirklich überlegt, was braucht ein Pilot, um Sachen zu erkennen und handlungsfähig zu bleiben? Dafür haben wir Kernkompetenzen und Checklisten entwickelt, damit grundlegende Dinge stets beherrscht werden.
Gleichzeitig müssen wir aber auch die Teamfähigkeiten stärken. Wir müssen Piloten ihr Verhalten reflektieren lassen, sie müssen sich ihren Verhaltensweisen bewusst werden. Das geht sogar so weit, dass man in unserem Training ein Feedback bekommt, beispielsweise: Du neigst dazu, den Kollegen nicht aussprechen zu lassen, oder du neigst dazu, nicht mehr zuzuhören. Dabei bekommen wir unser eigenes Verhalten widergespiegelt und so entstehen daraus Entwicklungsmöglichkeiten für: Workload-Management, Kommunikation, Entscheidungsfindung im Team. Ein für mich zentraler Punkt bei dem Thema, wie wir mit Ungewissem umgehen, ist aber auch der Mensch an sich, also der Pilot. Neben all den eben genannten Kompetenzen braucht der Pilot das Vertrauen in sich selbst. Neben einer guten Ausbildung und dem gezielten ehrlichen Training, ist eine positive Fehlerkultur wichtig, die es erlaubt zu scheitern, Fehler zu machen und transparent, ehrlich sowie offen funktioniert. Dabei geht es nie darum, herauszufinden, wer Schuld oder Recht hat. Uns interessiert nur, dass wir den Fehler korrigieren und künftig möglichst vermeiden.
Wenn wir dann die psychologische Sicherheit haben, für auftretende Fehler nicht bestraft zu werden und sich jeder gegenseitig unterstützt, dann kann man im Team zusammenarbeiten. Wird die Kultur von der Führungskraft bis zu jedem Mitarbeitenden gelebt, können auch unvorhergesehene Ereignisse im Team gemeistert werden.


Das Interview führte David Gordon, Projektmanager Technologie I ZD.B-Themenplattform Vernetzte Mobilität bei der Bayern Innovativ GmbH.


Hören Sie sich das vollständige Interview als Podcast an:

Resilienz in der Luftfahrtbranche

Resilient bleiben, wenn Dinge passieren, die man nicht vorhersehen konnte. Was bedeutet das? Und welche Learnings der Luftfahrbranche können auf Mobiliätssysteme allgemein übertragen werden? David Gordon spricht mit Berufspilotin Sandra Linder.

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