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Pflege und digital: Passt das zusammen?
Hohe Lebensqualität bis ins hohe Alter ist eine große Herausforderung für unsere Gesellschaft. Die Bewältigung der Herausforderungen der Pflege in einer Gesellschaft mit längerem Leben stoßen an ihre Grenzen – egal, ob in Akutkrankenhäusern, Rehakliniken, Pflegeheimen oder ambulanten Pflegediensten. Daher sind neue Strategien gefragt, die pflegebedürftigen Menschen helfen, professionelle Pflegekräfte und pflegende Angehörige entlasten und für eine verbesserte Intensiv- und Palliativpflege sorgen. Darüber sprechen wir im nachfolgenden Interview mit Marlene Klemm, Leiterin des Pflegepraxiszentrums Nürnberg und Dr. Jörg Traub, Leiter des Spezialisierungsfeldes Gesundheit bei der Bayern Innovativ GmbH und Geschäftsführer des Forums MedTech Pharma e.V.

Marlene, welche akuten Herausforderungen siehst Du in der Pflege?
Marlene Klemm: Die Corona-Krise hat uns aufgezeigt, dass wir einige strukturelle Probleme haben, die angegangen werden müssen: Beispielsweise die Schaffung von mehr Kurzzeitpflegeplätzen, aber auch das Überleitungsmanagement von der Klinik in die stationäre Langzeitpflege. Heimbewohner oder Bedürftige sind in der stationären Langzeitpflege immer häufiger auf Sozialhilfe angewiesen, um ihren Heimplatz zu finanzieren, da die Eigenanteile steigen. Hierzu gibt es schon Überlegungen, wie die Pflegeversicherung als eine Art Vollversicherung ausgebaut werden könnte.
Wichtig ist auch, die Attraktivität des Pflegeberufs zu stärken. Zum einen durch eine bessere im Tarifvertrag verankerte Bezahlung, zum anderen durch verbesserte Arbeitsbedingungen. Hierbei spielt Technik und Digitalisierung eine ganz große Rolle. Pflegende Angehörige sowie das Pflegepersonal könnten durch technische Unterstützungssysteme oder intelligente digitale Produkte entlastet werden. Da gibt es noch viel Potenzial!
Jörg, welche technologischen Ansätze siehst Du, um diese Herausforderungen anzugehen oder vielleicht sogar zu lösen?
Dr. Jörg Traub: Bei der Finanzierung sind Rahmenbedingungen erforderlich, die geändert werden müssen. Hier gab es schon im Laufe des letzten Jahres einen Vorstoß für digitale Gesundheitsanwendungen (DiGAs) . Aktuell liegt ein Gesetzentwurf für digitale Pflegeanwendungen – sogenannte DiPAs – vor, der eine zusätzliche Finanzierung für Pflege, Pflegeunterstützung und Pflegedienstleistungen vorsieht.
Bei der Pflege, unabhängig der Bezahlung des Pflegepersonals bzw. der Erstattung wird immer in Investitionen oder in pflegenden, abrechenbaren Leistungen unterschieden. Wenn etwas nicht den beiden Kategorien zugeordnet werden kann, gibt es in der Regel keine Erstattung. Damit scheitert die Umsetzung der Innovation – der neuen Technologie – schon daran, dass es keine Erstattung am Markt gibt, da der Pflege- und Gesundheitsmarkt ein geschlossener Markt ist. Dieser ist von individuellen Leistungen des zu Pflegenden bzw. dessen Angehörigen oder eben von Sozialleistungen abhängig.
Zwingend notwendig ist die Einführung von Technik wie Automatisierung, Sensorik und Digitalisierung, die bei der Umsetzung von pflegeunterstützenden Prozessen eine große Rolle spielt. Hierbei geht es meist nicht um die Pflege am Patienten selbst, sondern um die Entlastung des Pflegepersonals bei schweren Tätigkeiten, wie z. B. das Stemmen von Patienten. Unterstützungsprozesse und Dokumentationsprozesse können durch Digitalisierung erleichtert werden und Freiräume für die Pflegenden schaffen, sich wieder auf den Menschen konzentrieren zu können. Dies ist häufig ein langer Weg.
Marlene, kannst Du für diese technologischen Ansätze oder diese personelle Entlastung ein paar Praxisbeispiele nennen?
Marlene Klemm: Wir - das PPZ-Nürnberg - erproben im Echtbetrieb der Pflege unterschiedlichste und vielfältigste Produkte. Dabei haben wir diverse pflegerische Settings wie die stationäre Langzeitpflege, den Klinikbetrieb oder die geriatrische Rehabilitation. Darüber hinaus gibt es auch Demenz-Gruppen, die Produkte erproben. Dabei werden Produkte getestet, die die Kommunikation unterstützen. Beispielsweise Apps , die während der Corona-Pandemie geholfen haben, die Kommunikation zwischen Pflegepersonal und den Angehörigen aufrecht zu halten. Wichtig dabei ist, dass die Kommunikation sicher und datenkonform angeboten wird.
Aber auch Produkte zur Prozess-Steuerung werden geprüft, die z. B. die vielen Besuche in Heimen digital regeln, wobei auch Schnelltests der Angehörigen mit erfasst werden können. Das NürnbergStift ist gerade bei der Implementierung einer solchen App. Hierbei darf nicht unterschätzt werden, dass eine Implementierung oftmals vier bis sechs Monate dauern kann und diese engmaschig begleitet werden muss.
Technische Unterstützungsmöglichkeiten, also beispielsweise Matratzensysteme zur Dekubitusprophylaxe, um ein Wundliegen zu verhindern, werden auch erprobt.
Daneben gibt es digitale Spiele wie ein VR-Spiel für Senioren , die für die soziale Betreuung eingesetzt werden. An virtuellen Jahrmarktbuden können verschiedene Aktionen bespielt werden, die der Aktivierung dienen und letztendlich auch Freude bei den Spielenden verbreiten.
Im Klinikbereich haben wir eine multilinguale Kommunikations-App, die bei Sprachbarrieren wie bei Patienten mit Migrationshintergrund, oft auch gepaart mit Analphabetismus, den Pflegeprozess unterstützt.
Für Menschen mit Demenz werden auch sensorgestützte Interaktionsspiele eingesetzt. Wie ein an der Decke montierter Sensorkasten, der ein Spiel auf den Tisch projiziert und man so interaktiv mit den Händen auf dem Tisch spielen kann. Interessant hierbei ist, dass dieses Produkt sowohl in der stationären Langzeitpflege als auch in der Klinik genutzt wird.
Stichwort Erstattungen oder auch App auf Rezept. Jörg, kannst Du da noch etwas ausführen?
Dr. Jörg Traub: Grundlage für Apps auf Rezept und hoffentlich bald auch Pflegeleistungen auf Rezept ist eine Modernisierung der IT-Infrastruktur und Plattformen, auf die Apps oder andere neue Lösungen integriert und aufgebaut werden können. Dabei sollte darauf geachtet werden, dass keine Insellösungen geschaffen werden. Dies gilt besonders bei Prozessen, die unterstützt werden sollen, außer es ist eine von dem Organisationssystem losgelöste Technologie.
„Apps auf Rezept” ist eine weltweit neue Technologie oder ein Verfahren, das es seit ca. einem Jahr auf dem Gesundheitsmarkt gibt. Digitale Gesundheitsanwendungen, sogenannte DiGAs , die im Verzeichnis beim Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte ( BfArM ) gelistet sind, können auf Rezept erstattet werden. Das heißt, ein Arzt kann beispielsweise bei Schlafstörungen eine therapiebegleitende Maßnahme verschreiben, wobei der Patient diese dann therapieunterstützend selber einsetzt.
Im Laufe von 2021, soll Ähnliches auch für Pflegeanwendungen etabliert werden. Entsprechende Gesetze sind grade hierfür auf den Weg gebracht worden und bei verschiedenen Verbänden in der Kommentierung, um die schnelle Umsetzung zu unterstützen. Beim langen Weg einer App von der Idee über die Entwicklung bis hin zur Erprobung müssen zwei Dinge bedacht werden: Ist es im Pflegekontext sinnvoll, diese einzusetzen und wird diese finanziert. Die Sinnhaftigkeit allein sollte eigentlich die Erstattung indizieren und voranbringen, was leider nicht immer der Fall ist. Um die Implementierung voranzubringen, muss dies partnerschaftlich und gemeinsam gelöst werden.
In Bayern gibt es einige unterstützende Organisationen, die helfen, DiGAs zur Anmeldung zu bringen, wie beispielsweise das DMAC Institut in Bamberg. Es unterstützt bei der Anmeldung von Fasttrack-Verfahren, also bei therapieunterstützenden, vom Arzt verschriebenen Apps. Diese müssen als Medizinprodukt zugelassen werden und die Regeln der Informationssicherheit einhalten. Datenschutz ist eines unserer höchsten Güter und muss bei jeglicher Kommunikation auch bei den digitalen Anwendungen respektiert und korrekt umgesetzt werden. Dabei ist die Transparenz über die Daten besonders wichtig.
Von der technologischen Seite ist einiges möglich. Aber sind Pflegeeinrichtungen tatsächlich schon für digitale Trends bereit?
Marlene Klemm: Das Interesse an neuen Technologien und digitalen Trends ist da, es fehlt jedoch gerade bei den Pflegeeinrichtungen und den Kliniken oftmals der Überblick. Dazu kommt noch, dass die Implementierung neuer Technologien mit einem sehr hohen zeitlichen und personellen Aufwand verbunden ist. Für die Umsetzung und die zwingend engmaschige Begleitung der Einführung müssen Ressourcen eingeplant werden. Leider wird öfter der Fehler gemacht, dass gute Produkte eingekauft, aber letztendlich nicht genutzt werden. Diese Produkte landen dann im Keller oder bleiben irgendwo auf der Station stehen.
Um das zu vermeiden, ist es wichtig, dass Mitarbeiter geschult werden und somit technisches Know-how erwerben. Denn nicht jedes Produkt ist gleich. Das Ziel sollte sein, Mitarbeiter so zu befähigen, dass sie selbst Produkte beurteilen können. Sie müssen datenschutzrechtliche Aspekte beachten, ethisch-sozial überlegen, welche Auswirkungen die Produktimplementierung auf den Pflegeprozess hat, um dann zu entscheiden, was sinnvoll ist. Dabei ist auch wichtig zu klären, wie die Implementierung angegangen werden muss und wie die Akzeptanz im Team gefördert werden kann. Letztendlich wird ein Changemanagement-Prozess angestoßen, der bei Weitem nicht trivial ist. Wenn diese Punkte aber beachtet und umgesetzt werden, dann denke ich, dass Technik und Digitalisierung wirklich Sinn und Nutzen stiften können.
Welche aktuellen Trends oder Erkenntnisse nehmt Ihr für Eure weitere Arbeit aus den bisherigen Erfahrungen mit?
Marlene Klemm: Sehr viele Produkte werden entwickelt, finden aber nicht den Weg in den Realbetrieb. Gründe dafür können eine mangelnde intuitive Bedienung, der Datenschutz, ökonomische oder auch die sozialen-ethischen Aspekte sein. Hier sind die Hersteller gefordert, kritisch zu reflektieren, wie ihr Produkt in die Pflege-Praxis passt, damit die dort verbundenen Prozesse und Änderungen gemeistert werden können. Wir brauchen „Probierräume”, in denen ein Austausch mit der Wissenschaft, der Forschung, den Herstellern und der Pflege-Praxis möglich ist, damit ein echter Nutzen für die Anwendenden entstehen kann.
Dr. Jörg Traub: Zwei Jahre lang Stillstand – ohne Interaktion und Evaluierung voranzubringen – wäre fatal. Digitale Messen sind eine große Herausforderung, aber auch eine Chance. Wichtig ist, dass durch digitale Veranstaltungen wie die Clusterkonferenz Wissen transportiert wird und Interaktionen stattfinden, die für Inkubation und das Weiterführen von Ideen oder für das Auffinden von Problemen essenziell sind. Digitale Veranstaltungen werden uns in Zeiten, in denen kein persönlicher Austausch mit vielen Akteuren in einem Raum möglich ist, noch begleiten, um Projekte starten, Wissen teilen und Interaktionen ermöglicht zu können.
Das Interview führte Dr. Petra Blumenroth, Projektmanagerin Technologie, mit Schwerpunkt Frugale Innovation bei der Bayern Innovativ GmbH.
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Zukunft der Pflege: Empathie und Technik vereint
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