Datengetriebene Mobilitätsprojekte & agile Verkehrsplanung
Liebe Frau Zahnwetzer, als Head of Mobility Consulting bei der DB-Tochter ioki beraten Sie Städte, Kommunen und Aufgabenträger dabei, datengetriebene Mobilitätsprojekte umzusetzen und stetig weiterzuentwickeln. Wo liegen hier die größten Bedarfe und worauf kommt es bei einer agilen Verkehrsplanung besonders an?
Tanja Zahnwetzer: Ich sehe die größten Bedarfe im ländlichen Raum: Mobilität darf nichts Urbanes sein. Jeder sollte, unabhängig vom Wohnort, einen Zugang zu einem ausreichenden Verkehrsangebot im öffentlichen Nahverkehr haben, damit der Bedarf an privaten PKW geringer wird. Nur so können wir mehr Personen davon überzeugen, vom PKW auf den ÖPNV umzusteigen und langfristig die Mobilitätswende zu erreichen. Dabei darf sich bzw. sollte sich das Verkehrsangebot in Abhängigkeit von den lokalen Besonderheiten je Region (Raumtyp, Siedlungsstruktur, etc.) unterscheiden, um auf die Bedürfnisse der Bevölkerung bedarfsgerecht eingehen zu können. Flächenverkehre, wie z. B. On-Demand sind hier eine gute Möglichkeit, besonders im suburbanen und ländlichen Raum den öffentlichen Nahverkehr sinnvoll zu ergänzen.
Was die agile Verkehrsplanung betrifft, kann man beobachten, dass sich unsere Welt immer schneller wandelt und sich somit auch die Bedürfnisse der Bevölkerung stetig ändern. Verkehrsplanung ist heute noch häufig ein sehr statischer langfristiger Prozess, der zumeist angebotsorientiert abläuft. Oftmals hat man damit versucht, Wege von Menschen durch ein Angebot so zu beeinflussen, dass sich das Verkehrsverhalten ändert. Doch wie wir alle wissen, verhalten sich Menschen selten so, wie man es möchte. Viele, häufig sehr subjektive Gründe, beeinflussen die Wahl des Verkehrsmittels oder den Weg, den ich nehmen will. Die digitale Welt und die Vielzahl an Daten auf die wir mittlerweile als Verkehrsplanerinnen und Verkehrsplaner zurückgreifen können, ermöglichen uns jedoch ein viel umfassenderes Bild des realisierten Mobilitätsverhaltens der Bevölkerung als nur über Befragungen oder Zählungen. So können wir die Bedürfnisse der Menschen stärker in den Fokus stellen und Verkehrsangebote bedarfsgerecht planen. Eine agile Verkehrsplanung erlaubt eine optimale Feinplanung neuer und bestehender Mobilitätsangebote anhand des tatsächlichen Bedarfs.
Analyse zur Qualität des ÖPNV-Angebots
Im Jahr 2021 wurde von ioki eine Analyse zur Qualität des ÖPNV-Angebots in Deutschland veröffentlicht, die in den Medien und Mobilitätsbranche für Aufsehen sorgte. Können Sie kurz auf die Kernergebnisse dieser Untersuchung eingehen? [Anmerkung d. Red.: weitere Einblicke in die Studie gibt Frau Zahnwetzer in ihrem Vortrag auf der CoSMoS]
Tanja Zahnwetzer: Wir wissen, dass über 90 Prozent der Deutschen glauben, dass ihre Lebensqualität besser sein würde, wenn sie nicht mehr auf das Auto angewiesen sind. Jedoch werden über 50 Prozent aller täglichen Wege mit dem Auto zurückgelegt. Daher haben wir uns gefragt, warum so wenige Menschen auf das Auto verzichten, obwohl die Bereitschaft vorhanden ist und eine datenbasierte Analyse über die Qualität des öffentlichen Nahverkehrs (ÖV) in Deutschland durchgeführt. Im Wesentlichen hat die Studie folgende Haupterkenntnisse geliefert:
1. Die Qualität der konventionellen öffentlichen Verkehrsangebote nimmt von der Stadt zu ländlichen Regionen stark ab:
Fast 94 Prozent der Bevölkerung (entspricht fast 52 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner in städtischen Regionen und 27 Millionen in ländlichen Gebieten) können eine Haltestelle des ÖVs bequem zu Fuß erreichen. Der Zugang ist also insgesamt hoch. Wenn man jedoch die Qualität des Angebots hinzunimmt, zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen Stadt und Land: 90 Prozent der Bevölkerung in Städten haben einen Stundentakt je Richtung, in ländlichen Räumen jedoch nur 63 Prozent. Somit haben nur 20 Prozent der deutschen Kommunen ein attraktives und flächendeckendes ÖV-Angebot - diese 20 Prozent liegen größtenteils in urbanen Räumen.
2. Neue Mobilitätsanagebote (z. B. E-Scooter, Bikesharing, etc.) befinden sich vor allem in dicht besiedelten städtischen Räumen:
Über 80 Prozent der deutschen Großstädte verfügen über mindestens zwei neue Mobilitätsangebote , im ländlichen Raum trifft dies auf weniger als ein Prozent der Gemeinden zu. Auch bei der Anzahl der vorhandenen Verkehrsmittel zeigt sich, dass ca. 90 Prozent der Fahrzeuge (Carsharing, E-Scooter , Bikesharing) in Großstädten platziert sind. Neue Mobilitätsangebote sollen den Nahverkehr in ländlichen Regionen alltagstauglich und attraktiv machen.
3. Es besteht ein deutlicher Zusammenhang zwischen der Qualität des ÖV-Angebotes und der PKW-Nutzung:
Je ländlicher ein Gebiet, desto länger die Entfernungen und desto häufiger wird der PKW genutzt. Doch auch, wenn disperse Siedlungsstrukturen eine wichtige Rolle bei der hohen PKW-Nutzung spielen, scheint der Mangel an Alternativen der entscheidende Faktor zu sein. Fast 30 Prozent der Haushalte im ländlichen Raum besitzen mehr als ein Auto, in urbanen Räumen sind es nur 20 Prozent. Insgesamt besitzen ca. 25 Prozent der deutschen Haushalte mehr als einen PKW. Die Haushalte, die keinen PKW besitzen (größtenteils in Städten), geben häufig als Grund an, dass sie kein Auto benötigen, um sich frei zu bewegen. Daraus lässt sich schließen, dass bei einem attraktiven ÖV eine Verringerung des PKW-Besitzes wahrscheinlicher wird.
Frauen in der Tech- und Mobilitätsbranche
Als New Mobility-Expertin setzen Sie sich für eine verstärkte Sichtbarkeit von Frauen in der Tech- und Mobilitätsbranche ein – Woran liegt es, dass die Branche noch von Männern dominiert wird und wie lässt sich das Aufgabengebiet für Frauen attraktiver gestalten?
Tanja Zahnwetzer: Gute Frage, das lässt sich nicht auf einen Faktor beschränken, hier spielen sicherlich mehrere Gründe eine Rolle. Ein Grund ist, dass es leider noch recht wenig sichtbare weibliche Vorbilder in diesem Bereich gibt, auf die junge Frauen und Mädchen blicken können. Allerdings werden wir hier besser und es gibt viele Netzwerke, wie z. B. Women in Mobility, dessen Mitglieder sich verstärkt für die Sichtbarkeit von Frauen in der Mobilitätsbranche einsetzen. Dennoch ist es in meinen Augen wichtig, die Sichtbarkeit z. B. über Formate wie “Girls Day” weiterhin zu stärken und mit jungen Frauen als Vorbilder die Branche zu bewerben. Darüber hinaus sollte der Arbeitgeber auf die Bedürfnisse von Mitarbeitenden eingehen und die Vereinbarkeit von beruflichen und privaten Interessen ermöglichen. Bei ioki gelingt dies z. B. durch flexible Arbeitsmodelle und Homeoffice-Möglichkeiten oder durch individuelle Weiterbildungs- und Entwicklungsmöglichkeiten.
Vielen Dank, Frau Zahnwetzer, für diese Informationen. Wir freuen uns, bald mehr von Ihnen zu hören!
Veranstaltungshinweis: CoSMoS 2022 I 10. März 2022 I Ingolstadt