Bordnetz-Komponenten im Check
Im Kontext autonomes Fahren gibt es die Begrifflichkeiten aus der Elektrik/Elektronik wie ASIL, Funktionale Sicherheit, ISO 26262. In diesem Zusammenhang managt der Cluster Automotive bei Bayern Innovativ einen Arbeitskreis, der den Schwerpunkt der FIT-Raten-Bestimmung von Bordnetz-Komponenten hat. Hier hat sich herauskristallisiert, dass man Bordnetz-Komponenten unter dem Blickwinkel der Ausfallsicherheit und des Testings gänzlich neu betrachten muss, was letztlich Auswirkungen auf den gesamten Entwicklungsprozess hat. Nach Ihrer Studie werden die Auswirkungen des autonomen Fahrens auf das Bordnetz von den Zulieferern unterschiedlich bewertet, teilweise völlig unterschätzt. Welchen Impact hat das autonome Fahren Ihrer Meinung nach auf den Kabelsatz und was muss man in Zukunft besonders beachten?
Marlene Kuhn: Auf der Produktebene Bordnetz gibt es bereits viele Ansätze und Ideen zum Umgang mit FuSi, wie Diskussionen zu ASIL und Fit-Raten oder neuen E/E-Architekturen. Die Analysen auf Produktebene gehen nach unseren Kenntnissen gut voran. Jedoch wird derzeit noch sehr wenig auf der Prozessebene konkret umgesetzt, insbesondere was die Fertigungsprozesse angeht. Es werden zwar oft die Themen Automatisierung und auch Rückverfolgbarkeit erwähnt und die Notwendigkeit dieser Themen betont, aber das notwendige Budget mit dem richtigen „Drive“ in konkreten Projekten für die Serie scheint noch nicht da zu sein. Im Rahmen des autonomen Fahrens sind Projekte zur Automatisierung der Entwicklung und Fertigung sowie schnittstellenübergreifende Digitalisierung und Rückverfolgbarkeit der Prozesse mit geeigneten Technologien notwendig. Im Allgemeinen sollte die Produktion und Logistik des Bordnetzes deutlich mehr Beachtung bei den Entscheidungsträgern und Entwicklungsabteilungen finden. Eine sichere, transparente und reproduzierbare Produktion sollte für die Unternehmen Pflichtprogramm sein und Beachtung auf höchster Managementebene erfahren. Was nützt es, das Design zu optimieren und abzusichern, wenn im Werk das falsche Material kommissioniert oder verbaut wird? Was nützt eine virtuelle Simulation aller Szenarien im Fahrzeug, wenn bereits in der Produktion durch falsches Handling Teile beschädigt wurden? Wenn man sich die meisten Beiträge auf den einschlägigen Konferenzen ansieht, hat man das Gefühl, das Bordnetz wäre ein Produkt, das nur entwickelt und nicht produziert wird.
Datendurchgängigkeit und Automatisierung
Beim Kooperationsforum Bordnetze am 31. Oktober 2019 in München werden unter anderem die Schwerpunkte „durchgängige Datenmodelle von der Entwicklung bis zur automatisierten Fertigung" sowie "Absicherung des Energiebordnetzes“ Akzente setzen. Augenfällig ist der Schwerpunkt auf Prozessen. Werden diese maßgeblichen Anteil am „Bordnetz der Zukunft“ haben?
Marlene Kuhn: Mit diesen Themen geht es genau in die richtige Richtung. Datendurchgängigkeit und Automatisierung sind die disruptiven Prozessansätze, die jetzt schnellstmöglich umgesetzt werden sollten. Idealerweise werden diese Ansätze direkt für eine neue E/E-Architektur und neue Technologien zur Signal- und Leistungsvernetzung verfolgt. Eine Reduzierung der Produktkomplexität, eine Modularisierung des Designs sowie digital durchgängige und automatisierte Prozesse von der Entwicklung bis zur Produktion; das sollte von den Unternehmen priorisiert werden und der Benchmark für die nahe Zukunft sein.
In Ihrer Studie sprechen Sie von der “Development to Manufacturing Interface”. Welche Probleme ergeben sich an der Schnittstelle zwischen Entwicklung und Fertigung?
Marlene Kuhn: Unsere Studie hat ergeben, dass die größte Schnittstelle im derzeitigen Fertigungsprozess die Schnittstelle zwischen der Entwicklung und der Fertigung ist. Diese Schnittstelle manifestiert sich auf Prozessebene (wenig Bezug zu fertigungsrelevanten Aspekten in vorangelagerten Prozessen), sozialer Ebene (Organisationssilos) sowie Informationsebene (diskontinuierliche Daten). Es gibt wohl kaum eine Industrie, dessen Entwicklung so sehr ihren Bezug zur Fertigung verloren hat. Wir haben dieses Phänomen als „Lost in Customer Orientation“ beschrieben. Die hohe Kundenorientierung und der lineare Prozess, der beim OEM mit jedem Change von vorne beginnt, haben dazu geführt, dass das Bordnetz ein Produkt geworden ist, was nicht effizient und profitabel produziert werden kann. In der Fertigung wurden bereits viele Maßnahmen zur Senkung der Kosten durchgeführt (bspw. Standortoptimierungen nach Lohnentwicklung, wenig Investitionen in Automatisierung und Rückverfolgbarkeit, etc.), sodass der Kostenrahmen für die Just in Sequence Radien ausgeschöpft sind. Der Trendslogan für 2020 sollte „Design for Manufacturing“ sein; d.h. konkrete Projekte zu innovativen Designlösungen (z. B. neue E/E-Architektur, Funktionsintegration, neue Technologien), die sowohl die Kundenwünsche erfüllen als auch automatisiert und profitabel zu fertigen sind.
Neue Geschäftsmodelle für das Bordnetz
Das klassische Geschäftsmodell im Bordnetz ergibt sich u. a. aus der Komplexität des (kundenspezifischen) Kabelsatzes, einer Logistik mit hoher Kundenorientierung und einem effizienten Change Management. Wie sehen neue Business Modelle für das Bordnetz aus?
Marlene Kuhn: Der große Vorteil ist, dass Bordnetzhersteller von den neuen Trends, wie dem autonomen Fahren und der Elektrifizierung profitieren und sich neue Möglichkeiten für das Design, die Entwicklungs- und Fertigungsprozesse sowie die interorganisationale Zusammenarbeit ergeben. Insbesondere bei neuen Playern, wie Mobilitätsanbietern oder großen IT Konzernen, könnten sich Bordnetzhersteller gleichwertig mit den OEMs im Wertschöpfungsnetzwerk positionieren. Eine große Gefahr hierbei ist, dass viele Kabelsatzhersteller und OEMs nicht gewillt sind, Dinge grundlegend, sondern weiterhin nur inkrementell zu verändern. Wenn deutsche und europäische Unternehmen nicht die Herausforderungen angehen, besteht sowohl die Gefahr der Konsolidierung als auch der Rückstufung zur „extended workbench“. Denn die Studie hat auch gezeigt: wenn wir es nicht machen, dann macht es jemand anders. Einige asiatische Unternehmen beispielsweise investieren derzeit massiv in neue Technologien für Entwicklung und vor allem auch Fertigung. Viele Studienteilnehmer verwiesen darauf, dass asiatische Firmen zum einen ein vereinfachtes Design haben und zum anderen höhere Budgets für die Automatisierung („wir wollen ja, können aber nicht“). Die Entwicklung und Herstellung von Kabelsätzen ist ein Wertschöpfungsprozess: wenn ganzheitlich gedacht wird, können auch hier Design- und Fertigungsinnovationen in diese Richtung vorangetrieben werden. Dabei ist es zweifelhaft, ob die Wertschöpfungsprozesse von heute kostenoptimal sind, und ob eine automatisierte und rückverfolgbare Fertigung nicht eigentlich günstiger ist. Sicherer ist sie bestimmt. Im Vergleich zu vielen anderen Branchen ist die Kabelbaumindustrie voller Chancen und steht vor großen Veränderungen, die als Chance wahrgenommen werden sollten. Sie hat großes Potenzial, sich mit neuen Produkten, Prozessen und Geschäftsmodellen im Hinblick auf sich abzeichnende Trends neu zu erfinden.
Vielen Dank, Frau Kuhn und bis bald in München beim 22. Kooperationsforum Bordnetze !