Kernkraftwerke in Deutschland

Eine aufwändige und teure Suche nach der erfolgversprechendsten Technologie – ein Rückblick

Autor: Dr. Klaus Hassmann, Cluster Energietechnik (Stand: Februar 2018) In Deutschland bewirkte die Freigabe der Technologie durch die Siegermächte in den 1950er Jahren über Jahrzehnte eine durch die Politik mit getragene nukleare Aufbruchstimmung; der Autor hat sie Ende der 1960er als Jungingenieur erlebt.  Im Wettbewerb mit Nationen, die schon eher mit Untersuchungen zur friedlichen Nutzung der Kernkraft begonnen hatten, haben Bund und Länder Forschungszentren aufgebaut; auch die Universitäten etablierten viele einschlägige Lehrstühle und die Studenten strömten in großer Zahl in das neue High-Tech Forschungsgebiet; auch in der Wirtschaft wurde viel technisches Wissen erarbeitet, zum Beispiel in den Bereichen Brennstoff (Uran/ Thorium/ Plutonium), Kühlung, Moderation (bremst die Neutronen auf die für die Kettenreaktion erforderlichen geringen thermischen Energien), Kern- und Systemauslegung, Konstruktion, Werkstoffe, Fertigung, nukleare Sicherheit in der Theorie und Praxis (Laborversuche bis hin zu Prototypanlagen);  unterschiedliche Bausteine haben Fachleute auf ihre Eignung für die großtechnische Anwendung, Umsetzung und Wirtschaftlichkeit getestet. Trotzdem führten Fehleinschätzungen von Entscheidungsträgern in Wirtschaft und Politik, zum Teil unterstützt durch die Wissenschaft, zu Bauentscheidungen, die viel Geld gekostet und nichts bis wenig gebracht haben. Nach dem Ausstiegsbeschluss – das letzte Kraftwerk geht 2022 von Netz – wird die Ära der Kernenergie in Deutschland nach etwa 60 Jahren beendet; das Detailwissen ist demnach in den Köpfen und den schriftlichen Hinterlassenschaften von etwa 2 Generationen gespeichert. Nukleares Know-How wird weiterhin für den Rückbau der Kernreaktoren und für die Handhabung des nuklearen Abfalls benötigt.

Druckwasserreaktor (DWR)

Hersteller in Deutschland (D): Bis auf eine Anlage (siehe 2.) hat Siemens zunächst in einer Zusammenarbeit mit Westinghouse später als Eigenentwicklung den DWR gebaut; der DWR wird 1973 in die Kraftwerk Union (KWU, AEG/Siemens jeweils 50%) eingebracht; 1975 übernimmt Siemens die AEG Anteile an der KWU; der Nuklearbereich wurde im Juli 2000 unter dem Namen Siemens Nuclear Power (SNP) ausgegliedert, die 2001 in der Framatome ANP (Siemens 34%) aufgeht; Siemens verkauft 2011 seine Anteile an den ANP Mutterkonzern Areva.

 1. Erstes kommerzielle Kraftwerk DWR

NameBetrieb von/bisHersteller/BetreiberLeistung, Megawatt  
elektrisch (MWel)
Obrigheim (KWO)1968/2005Siemens/EnBW357

TWh*) StromKühlmittel/ModeratorAnreicherung 
91H2O/H2O3 bis 5% spaltbares Material (z B U235) 

*) Terawattstunden; zum Vergleich: Bruttostromerzeugung in D in 2013: 631 TWh 

Reaktorkern Anlagentechnik Summe DWR  in D
Zylindrische Stäbe inPrimär- und SekundärkreislaufAnzahl/MW/TWh (bis 2014)
Brennelementen gebündeltdurch Dampferzeuger getrennt14/17114/3600

2. Das Kernkraftwerk (DWR), das nie hätte gebaut werden dürfen 

NameBetrieb von/bisHersteller/BetreiberLeistung, MWel TWh  
Strom
Kernkraftwerk1986/1988BBR**)/RWE130211,3
Mülheim-Kärlich (KMK) **) Babcock-Brown Boveri  

KMK wurde trotz zahlreicher Einsprüche in einem erdbebengefährdeten Gebiet gebaut und in Betrieb genommen; nach einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes Berlin musste die Anlage nach 1,5 Betriebsjahren abgeschaltet werden. Sie ging nicht wieder in Betrieb und wurde stillgelegt; einige Systeme/Komponenten im Maschinenhaus wurden in das Ausland verkauft.

Siedewasserreaktor (SWR)

Hersteller in Deutschland (D): AEG in Lizenz von General Electric (GE); die AEG bringt den SWR 1969 in die KWU ein – danach wie DWR.

3. Prototyp SWR 

Name
Betrieb von/bis
Hersteller/Betreiber  
Leistung,  
MWel
Kahl (VAK)
1961/1985
AEG, GE/RWE,Bayernwerk
16
TWh Strom
Kühlmittel/Moderator
Anreicherung
2,2
H2O/H2O
ähnlich DWR
Reaktorkern 
Anlagentechnik
Summe SWR in D
Zyl. Stäbe/Brennelemente
Dampferzeugung im Kern
Anzahl/MW/Twh (bis
kein Dampferzeuger
10/7938/1600
Druck ca 50% DWR

4. Als kommerzielle SWR-Anlage gescheitert – ein Versuchskraftwerk entsteht       

Name
Ziel
Betrieb von/bis
Hersteller/Betreiber
Heißdampfreaktor
hoher el. Wirkungsgrad
1969/1971
AEG/Betr.Gesellsch Großwelzheim (HDR)

   Kostenreduktion                                     

Leistung,MW
TWh Strom
Kühlmittel/Moderator
Reaktorkern
Summe HDR in D
25
0,007
H2O/H2O
Einzelanlage
1. Zone Sattdampf
2.Zone 457°C/90bar

Aufgrund von Schäden an Brennelementen sowie zusätzlicher Probleme wurde beschlossen, die HDR Baulinie nicht weiter zu verfolgen; auch ein von AEG geplanter Umbau der Anlage in einen dampfgekühlten Brut- bzw in einen konventionellen Leichtwasserreaktor scheiterte; danach Verwendung als nichtnukleare Versuchsanlage; endgültige Stilllegung 1992.

Fazit Leichtwasserreaktor: DWR und SWR entwickelten sich in D aufgrund ihrer gegenüber den unten beschriebenen Alternativen zunehmend ausgereifteren Technik und Sicherheit sowie ihres zuverlässigen Betriebs zu den dominierenden Kernkraftwerkstechnologien; der DWR hatte gegenüber dem SWR die Nase vorne; so gingen in D gegen Ende der 80er Jahre drei bau- und zeichnungsgleiche DWR-Kraftwerke (Konvoi) des Herstellers KWU in Betrieb. Sie sind noch heute (2017) am Netz.

Schwerwasserreaktor (D2O-DWR)      

5. Prototyp D2O-DWR

NameBetrieb von/bisHersteller/BetreiberLeistung, MWel
Mehrzweck-Forschungs-reaktor (MZFR)1966/1984Siemens/u. a. Kernforschungszentrum Karlsruhe57

TWh StromKühlmittel/ModeratorAnreicherungSumme D2O-DWR in D
5,7D2O/D2Okeine, NatururanEinzelanlage

Fazit Schwerwasserreaktor: Aus Kosten- und auch aus Abhängigkeitsgründen sollte angereichertes Uran möglichst vermieden werden – man setzte auf Natururan als Brennstoff. Diese Überlegungen setzten sich mit den Jahren jedoch nicht durch. Siemens/KWU errichtete in Atucha, Argentinien, einen D2O-DWR mit einer Leistung von 357 MW, der 1975 in Betrieb ging. Mit dem Bau des 2. Atucha-Reaktors mit 745 MW wurde 1982 begonnen; Im Jahre 2006 entschied die argentinische Regierung die bis dahin zu 85% fertiggestellte Anlage CNA II unter der Führung von NASA fertigzustellen. NASA entstand aus der Firma ENACE, gegründet 1980 zwischen der arg. CNEA und Siemens/KWU mit dem Ziel die Weiterentwicklung und den Bau von Nuklearanlagen in Argentinien fortzusetzen. CNA II wurde Anfang 2015 fertiggestellt und dem kommerziellen Betrieb übergeben. 

Gasgekühlter Reaktor

6. CO2-Druckröhrenreaktor (CO2-DR)                        

NameBetrieb von/bisHersteller/Betreiber Leistung,MWelTwh Strom
Kernkraftwerk1972/1974Siemens/Bayernwerk1060,01

Niederaichbach(KKN) 

Kühlmittel/ModeratorAnreicherungReaktorkern/AnlagentechnikSumme CO2-DR in D
CO2/D2Okeine, NatururanDruckröhren/ahnlich DWREinzelanlage

Die Abschaltung 1974, nach so kurzer Zeit, lag an technischen Problemen z B mit dem Hochtemperatur-Wärmetauscher (500°C/>100 bar), vor allem aber an der fehlenden Wirtschaftlichkeit.

7. Hochtemperatur-Kugelhaufenreaktor (Versuchsreaktor)

NameBetrieb von/bisHersteller/BetreiberLeistung,MWel
Arbeitsgemeinschaft Konsortium1967/1988BBC,Krupp/15

Versuchsreaktor (AVR-Jülich)

TWh StromKühlmittel/ModeratorAnreicherungReaktorkern/Anlagentechnik
1,7Helium/GraphitU235/Th 232Graphitkugeln, primärsseitig über 800°C, 40 bar                               Sekundärkreislauf nach Dampferzeuger  

8. Hochtemperatur-Kugelhaufenreaktor (kommerzieller Reaktor)                                         

Name
Betrieb von/bis
Hersteller/Betreiber
Leistung, MWel
TWh Strom
Thorium Hochtemp.
1985/1988
BBC/Konsortium
  308  
        2,9

Reaktor (THTR)      

Kühlmittel/ModeratorReaktorkern/Anlagentechnik Summe HTR in D  Anzahl/MW/TWh
Helium/GraphitGraphitkugeln , primärseitig 750°C/40 barSekundärseitig Dampf 530°C             2/323/4,6

Fazit Hochtemperatur – Kugelhaufenreaktor: Die Entwicklung dieser Reaktorlinie galt generell als kernschmelzsicher, was den Umfang der Spaltproduktfreisetzung bei einem Supergau betrifft. Nach den Erfahrungen im AVR und THTR gab es Zweifel an dieser Prognose – Lufteinbruch kann zu Bränden, Dampf oder Wasserzufuhr zur Freisetzung von brennbaren Gasen (H2) sowie zu einer Kritikalitätsrampe führen. In diesem Umfeld gepaart mit Störfallanfälligkeit und fehlender Wirtschaftlichkeit, auch in Konkurrenz mit dem auf dem deutschen Markt sich etablierenden Leichtwasserreaktor, führte dazu, dass sich für den Vorschlag eines Baukonsortiums keine Partner mehr fanden, die einen 500 MW Reaktor zu finanzieren und zu betreiben bereit waren.

Natriumgekühlter Reaktor

9. Schneller Brutreaktor (Prototyp)

NameBetrieb von/bisHersteller/BetreiberLeistung,MWel
Kompakte natriumgekühlte 1978/1991(Stop Interatom (KWU) / SNR 300) Badenwerk21   Kernreaktoranlage (KNK Karlsruhe)

     

TWh StromKühlmittel/ModeratorReaktorkern/Anlagentechnik
0,49Natrium/kein Moderatordiverse Modifikationen/2 Na Kreisläufe

10. Schneller Brutreaktor als kommerzielle Anlage geplant und errichtet

NameFertigstellungHersteller/BetreiberLeistung,MWel
Schneller natriumgekühlter Reaktor Interatom (KWU)/Reaktor (SNR 300)betriebsbereit ab 1986Betreibergesellsch.300

 Reaktorkern/Anlagentechnik

Brennstäbe zylindrisch in BE; Brutmantel für Erbrütung von Spaltstoff/2 Na Kreisläufe

Fazit Natriumbrüter: Trotz umfangreicher und auch positiver Erfahrung aus dem KNK-Betrieb scheiterte die Technologie aus mehreren Gründen: Kalkar liegt in NRW; die Landesregierung verkündet eine Kohlevorrangpolitik beim Strom und verweigerte die Betriebserlaubnis für den SNR 300; 1989 wird die Wiederaufbereitung in Wackersdorf gekippt, auf die Brutreaktoren im Land ihres Betriebs generell angewiesen sind. Die Leichtwasserreaktoren etablierten sich als sichere und zuverlässige Stromerzeuger – andere Reaktortypen waren unwirtschaftlicher. Auch die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986 verursachte Ängste und zusätzliche Ablehnung.

Die zwei großen Kraftwerke schneller natriumgekühlter Brüter (SNR 300) und der Druckwasserreaktor Mülheim Kärlich waren überhaupt nicht oder nur kurz in Betrieb; sie kosteten der Volkswirtschaft einen niedrigen zweistelligen Milliarden Deutsche Mark-Betrag. Daran gespiegelt, waren die Aufwendungen für dem Aufbau von Kompetenzen, dem Bau und Betrieb von Versuchsanlagen (VA) und Prototyp-Kraftwerken (PK) kleiner Leistung gering. Der Abriss der VA und PK kleiner Leistung bis zur Wiederherstellung der grünen Wiese ist allerdings um ein Vielfaches teurer als der Bau dieser Anlagen.