Individuelle Unterarmgehstützen

Zeit- und Kostenersparnis durch Einsatz der Additiven Fertigung

07.03.2023

Autor: Prof. Dr.-Ing. Raimund Kreis, Hochschule Landshut, Fakultät Maschinenbau

Kernkompetenzen der additiven Fertigung (3D-Druck) basierend auf einem soliden maschinenbau-technischem Grundwissen, Werkstoff- und Verfahrenstechnik Grundlagen >> zum Kompetenzprofil >> zur Interaktiven Landkarte "Additive Fertigung in Bayern" >>  English Version 

Beschreibung des Bauteils: Gehhilfen, wie Unterarmgehstützen nach DIN EN ISO 11334-1, sind häufig noch Massenware mit begrenzter Anpassbarkeit an den Nutzer. Für die Herstellung von Unikaten und damit einer individuellen Versorgung, bietet sich jedoch additive Fertigung an. Im Labor für additive Fertigung der Hochschule Landshut wurde daher eine Unterarmgehstütze entwickelt, die individuell an eine Testperson angepasst wurde. Als additives Fertigungsverfahren diente dabei das Fused Filament Fabrication (FFF)-Verfahren.

Individuelle Unterarmgehstützen
Baustruktur der Gehstütze mit allen Einzelelementen

Herausforderung:

Aus Kostengründen werden die Oberteile von Unterarmgehstützen (Griff und Manschette) durch Kunststoffspritzgießen hergestellt. Das Unterteil besteht i. d. R. aus einem Aluminium-Teleskoprohr. Aufgrund der hohen Kosten für die Herstellung konventioneller Spritzgussformen sind Oberteile mit individuellen Geometrien wirtschaftlich nicht herstellbar. Außerdem ergeben sich durch die Spritzgussformen Einschränkungen hinsichtlich der geometrischen Gestaltung. Es gilt, Entformungsrichtungen und -schrägen zu beachten sowie Hinterschnitte zu vermeiden. Belastungsgerechter Leichtbau und ein individuelles Design werden dadurch sehr eingeschränkt.

Unter der Prämisse, dass die Lebenserwartung steigt und Menschen länger allein leben, werden Gehstützen zukünftig nicht nur kurzzeitig, sondern zur Erhaltung der Mobilität bis ins hohe Alter verwendet. Um jedoch die Akzeptanz zu erhöhen, muss sich das Image der Unterarmgehstütze von der „Krücke“ zum Accessoire wandeln sowie einen hohen Komfort bieten.

Ersteres kann durch ein attraktives, vom Nutzer wählbares Design erreicht werden. Ein hoher Komfort lässt sich aber nur erreichen, wenn die Geometrie möglichst exakt auf die individuellen körperlichen Gegebenheiten des Nutzers abgestimmt ist. Darüber hinaus lässt im Alter die Kraft nach, so dass auf ein möglichst niedriges Gewicht der Gehstütze geachtet werden muss. Aufgrund der hohen Designfreiheit bei additiven Fertigungsverfahren lassen sich attraktives Design, individuelle Geometrie und Leichtbau vereinen.

Lösung:

Bei der Gestaltung von Unterarmgehstützen besteht trotz der Normung viel Spielraum. Ideal wäre eine komplett additiv hergestellte, einteilige Gehstütze. Bei dem entwickelten Konzept wurde aus wirtschaftlichen Gründen ein Kompromiss aus 3D-gedruckten und zugekauften Teilen angestrebt um die Individualisierung so kostengünstig wie möglich zu realisieren.

Das Oberteil wurde mit Hilfe von CAD- und Topologieoptimierungsprogrammen speziell auf eine Testperson angepasst und im FFF-Verfahren aus ABS (Acrylnitril-Butadien-Styrol) gedruckt. Es beinhaltet einen Griffträger, die Armmanschette sowie, als functional enrichment, Aufnahmen für Front- und Rücklicht. Ein individuell von der Person abgeformter und weicher 3D-gedruckter Griff aus TPU (Thermoplastisches Polyurethan) sowie weitere Polsterelemente lassen sich separat anbringen. Das Unterteil besteht aus einem zugekauften Carbonrohr und einer gehstützenüblichen Gummikappe. Die Verbindungen der Einzelteile sind als Presspassungen bzw. Klebeverbindungen ausgeführt.

Das Oberteil kann aufgrund seiner Größe noch in vielen herkömmlichen 3D-Druckern mit moderatem Zeitaufwand hergestellt werden. Komplexe Gitterstrukturen, die durch Spritzguss nicht realisierbar sind, sorgen für ausreichende Belastbarkeit bei niedrigem Gewicht und ansprechendem Design.

Durch den Einsatz der additiven Fertigung ist es möglich, das Oberteil in Form und Farbe individuell zu gestalten. Bei der Form sind die Grenzen aufgrund der zu erfüllenden Funktion etwas enger gesetzt. Oberfläche und Farbe eröffnen jedoch, durch die Wahl des Druckmaterials, nachträgliche Oberflächenbehandlungen oder Beschichtungen (z. B. Lackierungen oder farbige Polster) viele Möglichkeiten. Weitere Individualisierungsmöglichkeiten bestehen in der Integration zusätzlicher Funktionen, hier z. B. Lampen, die das sehen und gesehen werden in dunklen Umgebungen verbessern. Sensoren zur Überwachung von Vitalparametern, zur Sturzerkennung oder Ortung können weitere sinnvolle Ergänzungen sein.

Eine konventionelle Unterarmgehstütze wiegt ca. 500 bis 550 g. Der an die Testperson angepasste 3D-gedruckte Prototyp wiegt 445 g ohne bzw. 472 g mit Lampen. Der Prototyp wurde von Veronika Selmaier im Rahmen ihrer Bachelorarbeit an der Hochschule Landshut entwickelt. Betreut wurde die Arbeit von Prof. Dr.-Ing. Raimund Kreis und im Labor für additive Fertigung mit Unterstützung von Prof. Dr.-Ing. Norbert Babel hergestellt.

Fazit: Indem für eine Testperson ein Prototyp realisiert wurde, konnte gezeigt werden, dass durch 3D-Druck eine individuelle Anpassung von Unterarmgehstützen technisch möglich ist. Es ist daher denkbar, dass in Zukunft Orthopädietechniker (ggf. in Kooperation mit Fertigungs- oder Konstruktionsdienstleistern) Unterarmgehstützen individuell an Patienten anpassen. Allerdings müssen zur Absicherung der additiven Herstellung noch Ermüdungs- und Fallprüfungen nach DIN EN ISO 11334-1 durchgeführt werden.

Allgemeine Informationen zum Bauteil:
Material: Polymer Verfahren: Material Extrusion Wertschöpfungskette: In-Processing Branche: Medizintechnik Menge: Prototyp Hersteller: Hochschule Landshut