Energiewende Deutschland: Sektorkopplung

Nur Systembetrachtungen Strom, Wärme, Mobilität sind aussagekräftig

Autor: Dr. Klaus Hassmann

Unter Sektorkopplung wird die gemeinsame Betrachtung/Optimierung der die Energiewende bestimmenden Sektoren Strom, Wärme und Mobilität nach Umweltverträglichkeits- (Minimierung der Schadstoffe wie CO2), Versorgungssicherheits- und Wirtschaftlichkeits-Gesichtspunkten verstanden. Neue Techniken sollen alte, heute noch in Betrieb befindliche Systeme/Komponenten mit hohen Schadstoffemissionen kurz- und mittelfristig deutlich verbessern bzw. sie langfristig ganz aus dem Markt verdrängen.

Warum der schnelle Energieumstieg in Deutschland?   

In Deutschland wurde im Jahr 2011 die Energiewende für den Sektor Strom nach der Reaktorkatastrophe mit Kernschmelzen im japanischen Fukushima mit Feuereifer gestartet. Ein Ausstiegsszenario aus der Kernkraft (KK) wurde mit dem Abschalten des letzten Reaktors im Jahr 2022 beschlossen – schnelles Handeln wurde notwendig. Ein „Raus“ aus der KK hat sonst kein Land so radikal entschieden, obwohl hier zu Lande Sicherheit auf höchstem Niveau eindeutig Vorrang vor Geldverdienen der KK-Betreiber hatte. Es gibt nicht nur in Europa einige Länder, die sich auf einen längerfristigen KK-Ausstieg verständigten; kurzfristig passiert jedoch nicht viel: Diese Länder werden KK-Werke nach Ablauf der Lebensdauer vom Netz nehmen, begonnene Reaktoren fertigstellen und keine neuen bauen – letzteres kann sich mit der Zeit noch ändern; andere Länder, vor allem im Osten halten an der Kernenergie fest.

Die Kernenergie ist im Stromerzeugungssektor aus Autorensicht keine Schlüsseltechnologie für Energiewenden. Sie kann Zeitdruck aus dem Zubau der Erneuerbaren nehmen, ist für die Einhaltung der Pariser Beschlüsse jedoch nicht der Schlüssel zum Erfolg. Zu viel ist passiert und es wird wieder passieren; die Reaktorindustrie im Westen kämpft ums Überleben.

Wie wird bei der Energiewende in Deutschland vorgegangen?

Als Ersatz der wegfallenden elektrischen Leistung aus der KK von nahezu 13 GW wurden und werden die Erneuerbaren in großen Stückzahlen zugebaut. Neue, vor allem erdgasbefeuerte, dezentrale Kraftwerke mit Wärmeauskopplung (KWK) zählen auch zum neuen Kraftwerksmix. Selbst die umstrittene Braunkohle (BK) soll aus Betreibersicht möglichst lange am Leben bleiben; das Land NRW genehmigte die Abrodung eines Waldstückes. RWE will die dort lagernde BK in den nächsten 2 Jahrzehnten in ihren mit hohen Emissionen behafteten BK-Kraftwerken verfeuern – aus Klimasicht ein Schritt in die falsche Richtung. Viele Gegner haben sich dort in den Bäumen verschanzt; die Polizei räumte den Forst; es gab schon einen Toten und mehrere Verletzte. Ein Gericht hat die Rodung bis zum Urteil ausgesetzt. Der CO2-Preis ist deutlich gestiegen; setzt sich dieser Trend fort, werden sich die Betriebsstunden mit BK deutlich reduzieren, was gut ist aus Klimasicht und schlecht für RWE. Eine Kohlekommission soll noch in 2018 ein Ausstiegsszenario erarbeiten.

Welchen Nutzen hat die Sektorkopplung?

Bisher galt es, die Versorgungssicherheit der Bevölkerung mit Strom sicherzustellen. In den letzten Jahren reifte die Erkenntnis, dass man mit dem Sektor „Strom allein“ eigentlich viel zu kurz springt. In den Sektoren Wärme und Mobilität müssen umweltschädliche Schadstoffe ebenfalls reduziert werden. Dazu ein Beispiel: Jeder weiß, dass die Abgaswerte von dieselbetriebenen Kraftfahrzeugen manipuliert wurden. Die EU-Umweltminister haben dieser Tage (2018) beschlossen, dass 2020 die Fahrzeuge eines Herstellers im Mittel 95 g CO2 je km abgeben dürfen; zusätzlich gefordert werden 35% CO2-Einsparung von 2021 bis 2030. Nach anfänglicher (verordneter) Gegenwehr hat auch die deutsche Ministerin zugestimmt.  Der Weg aus dieser misslichen Situation heraus wird schwierig.

Bei der Wärmeerzeugung in Haushalten und in der Industrie wird auf effizientere Erzeugung umgestiegen – Strom wird dabei eine Rolle spielen. In der Mobilität steht das Elektrofahrzeug mit der Infrastruktur Stromtankstellen vor der Tür. Das heißt, in Summe der Sektoren wird deutlich mehr Strom benötigt als bisher im Rahmen der Stromwende prognostiziert. Ohne viel zu rechnen, kann man heute schon davon ausgehen, dass Stromspeicher zugebaut werden müssen, um das Stromangebot zu vergleichmäßigen.

Wie wird der Blick in die Zukunft geschärft?

Fachgruppen sind in der Lage, Prognosen zu erarbeiten. In der Regel werden ausgehend vom status quo, basierend z B auf Daten von Kraftwerksleistungen zentral und dezentral, ihrem elektrischen Wirkungsgrad und vielem mehr (siehe unten), Modellrechnungen durchgeführt. Der Begriff Szenarien steht für den Blick in die Zukunft; dafür müssen unter anderem der Zubau an Kraftwerken erneuerbar ggf. auch konventionell sowie die Abbautransienten an fossilen Kraftwerken für einen gewählten Betrachtungszeitraum vorgegeben werden. Um den Einfluss z. B. auf die Schadstoffemission feststellen zu können, werden Rechenläufe für mehrere im Zu- und Abbau abweichende Szenarien durchgeführt; die Ergebnisse werden ausgewertet und verglichen. Auf die Richtigkeit der Ausgangsdaten und auf viel Realismus bei der Wahl der  Szenarien muss großer Wert gelegt werden – das alles unter dem Motto: „Die Ergebnisse sind so gut wie die Wahl der Vorgaben/Ausgangsdaten“.

Die Entwicklung von Energiesystemanalysen ist fachlich sehr anspruchsvoll 

Energiesysteme in der Sektorkopplungsvariante umfassen folgende wesentliche Bausteine:

  • Sektor Strom: Status Quo zum Rechenbeginn z. B. 2018 innerhalb der Systemgrenze (z. B. Deutschland): Kraftwerkspark fossil gefeuert, Erneuerbare, Standorte, CO2 Emissionen, Speicher (z.B. Batterie/Wasserkraft), Transport- und Verteilnetze, Regeln Strombörse, Stromverbrauch; über den Betrachtungszeitraum (z. B. 2018 bis 2030) Zubau Kraftwerke fossil (unter Berücksichtigung  von Verfügbarkeit/ Preisentwicklung der Ressourcen), Erneuerbare, Speicher, Stromverteilnetze, Höchstspannungs-Transportleitungen von Nord nach Süd und West als Freileitungen, Teilstrecken erdverkabelt; alle möglichst mit verbesserten Eigenschaften, neue Technologien sobald marktreif z. B. Power to Gas; Kosten Bausteine des Sektors Strom.
  • Sektor Wärme (Kälte mitbehandeln): Status quo 2018 mit ähnlicher Vielfalt und Gliederung wie beim Strom – Kraftwerkspark fossil, erneuerbar mit Wärmeauskopplung, Leistungen/Standorte; Solarthermie; städtische Bevölkerung häufig mit leitungsgebundener Wärme aus zentralen Anlagen; ländliche überwiegend mit Ölheizungen – Preisanstieg 2018 für Heizöl reizt zur Umstellung auf Strom (Nachtspeicherheizung, Wärmepumpen); Holz, Wärmespeicher. Die städtische, wie auch die ländliche Wirtschaft erzeugen die benötigte Heiz- und Prozesswärme häufig selbst. 2018 bis 2030 Zubau und Verbrauch mit Effizienzsteigerungen, auch neue Technologien wenn marktreif. Kosten Bausteine des Sektors Wärme.
  • Sektor Mobilität: Zur Zeit dominieren die Abgaswerte vor allem der Dieselmotoren; an den E-Autos/Infrastrktur geht kein Weg vorbei; status quo 2018 KFZ-Park incl. Busse/Lastwagen, Bahn/ Luftverkehr (mit einem starken Zuwachs wird gerechnet), Leistung, Fahrkilometer, Emissionen, Verkehrsverbote in Großstädten; 2018-2030 Fortschreibung obiger Segmente ebenfalls mit Effizienzsteigerung und neuen Technologien; Kosten Bausteine des Sektors Mobilität.  

Die Entwicklung von Rechenmodellen ist eine große Herausforderung. Personen unterschiedlicher fachlicher Kompetenz müssen zusammenarbeiten, wie z.B. Betriebswirtschaftler, Elektrotechniker, Informatiker, Maschinenbauer, Mathematiker, um die wesentlichen „Spieler“ zu nennen. Auch der Blick in die Zukunft ist wichtig, für den man Erfahrung im technisch/wirtschaftlichen Zusammenspiel der Technologien braucht. Eine Abbildung so „genau wie nötig“ erfordert einige Vereinfachungen; für deren Auswirkungen auf das Ergebnis muss ein Gefühl entwickelt werden. Speicherbedarf/Rechenzeiten bei einer Betrachtung über viele Jahre sind relativ hoch und erfordern den Zugriff auf Großrechner. Man muss auch lernen/wissen, wie man die Grunddaten des status quo (2018) beschafft – im Internet, aus der Wirtschaft oder von Institutionen, die Modelle entwickeln. Der status quo muss in gewissen zeitlichen Abständen auf den neuesten Stand gebracht werden.

Mit Modellanalysen zur Klima- und Wachstumsentwicklung zur Bekämpfung des Klimawandels hat William Nordhaus von der Yale Universität den Nobelpreis für Wirtschaft gewonnen; das zeigt, welche Herausforderungen mit diesen sehr komplexen und vielseitigen Rechenmodellen verbunden sind.

Kann Deutschland durch die Energiewende wirtschaftlich profitieren?

Deutschland gibt viel Geld aus, da der Erfahrungszuwachs aus einem „Prototyp Energiewende“ viel Geld und Umwege kostet. Wenn es gelingt, verbesserte und neue Technologien zu entwickeln, werden viele Länder diese Systeme nutzen wollen. Mittel- und längerfristig werden deutsche Industriefirmen dann im Export profitieren. Der Hinweis sei erlaubt: In den letzten Jahren bis heute (2018) hat der eingangs erwähnte Feuereifer deutlich nachgelassen – häufig war auch der Widerstand unterschiedlicher Gruppierungen im Land zu groß. Gas geben ist nötig, um die obigen Chancen wahr werden zu lassen.