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Einmal Tschernobyl - aber bitte mit Rückfahrkarte
30 Jahre nach der Reaktorkatastrophe von Tschernobyl
Autor: Dr. Klaus Hassmann, Cluster Energietechnik, Dr. Dipl. Phys. Theobald Fuchs, Nürnberg (Stand: Mai 2016) 1986 ist die Reaktorkatastrophe in Tschernobyl passiert. 30 Jahre nach diesem schrecklichen Ereignis wird in der Presse und in zahlreichen Medien ausführlich über den Unfallhergang und die Auswirkungen berichtet. Die Zielsetzung des vorliegenden Artikels besteht nicht darin, die Vorgänge zum x-ten Mal zu wiederholen. Zurückversetzt in die Wochen nach dem Unfall wird beschrieben, wie Fachleute zu verstehen versuchten, was dort passiert sein könnte. Anhand eindrucksvoller Fotos werden im 2. Teil Eindrücke aus einem zweitägigen Aufenthalt dieser Jahre vor Ort geschildert.
In den Medien wurde auf einen Reaktorunfall in der Ukraine hingewiesen, mehr nicht. Erst als aus einer Schlechtwetterzone in Skandinavien, später auch in mitteleuropäischen Ländern eine sehr hohe Bodenkontamination von sogar schwerflüchtigen reaktortypischen Spaltprodukten gemeldet wurde, begannen sich nicht nur in Deutschland Fachleute mit der Aufarbeitung dieser Sachlage zu beschäftigen. Nach Auswertung der Wetterverhältnisse war bald klar, dass diese Strahlungsbelastung aus einer radioaktiven Wolke abgeregnet wurde, die man dem Ursprungsland Ukraine zuordnen konnte.
Den Ereignissen in Tschernobyl auf der Spur
Fachliche Basis in Deutschland für Recherchen waren die Erkenntnisse aus dem FuE-Projekt Kernschmelzen des Bundes, für das bis 1986 mehr als 100 Mio DM ausgegeben wurden, sowie die Risikostudie für den Druckwasserreaktor Biblis B. Bei Überhitzung des Brennstoffs im Reaktorkern werden zunächst leichtflüchtige Edelgase, danach bei über 1500 Grad C mittelflüchtige Spaltprodukte wie Jod, Cäsium, Tellur und Antimon und letztendlich bei über 2200 Grad C schwerflüchtige wie Strontium, Barium, Molybdän, Ruthen, Lantan, Neptunium, Cer und Plutonium aus dem Brennstoff freigesetzt. Vor allem letztere haben eine sehr lange Lebensdauer bis die Strahlung auf für Mensch und Tier ungefährliche Werte abfällt. Zum Großteil werden Spaltprodukte der 2. und alle der 3. Kategorie an Partikel (Aerosole) gebunden freigesetzt. Die Zerfallsreihen der Elemente sind in der Liste der Nuklide aller bekannten Elemente nachzulesen.
Sehr zäh sickerte die Information durch, dass es sich in Tschernobyl um wassergekühlte, grafitmoderierte Reaktoren handelt; der Moderator bremst die Neutronen ab und stellt sicher, dass die für eine selbsterhaltende Kettenreaktion notwendigen Teilchen im Bereich des Reaktorkerns bleiben. Mit Hilfe der Reaktorphysik wurden diese Materialien auf ihr Verhalten bei unterschiedlichen System- und Komponenteausfällen untersucht. Man stellte fest, dass es zu einer steilen Leistungsrampe im Kern gekommen sein könnte mit der Folge, dass die Wärmeabfuhrmechanismen nicht mehr ausreichten und sich der Brennstoff samt umgebender Bauteile rapide aufheizte, bis die ursprüngliche Geometrie im Kern samt druckfester Umschließung durch thermodynamische Prozesse wie Schmelzen, vielleicht auch Verdampfung und deren mechanischer Wirkung verloren ging. Die hohen Temperaturen führten zu einer massiven Freisetzung auch schwerflüchtiger Spaltprodukte. Dieser „chaotisch schnelle“ Phasenwechsel in Kombination mit einer deutlichen Veränderungen der Ursprungsgeometrie wird die Kettenreaktion und damit die Wärmeerzeugung (bis auf die Nachwärme der in Kernmaterial verbliebenen Spaltprodukte) unterbunden haben. Die drohende massive Freisetzung von Radioaktivität war durch Eingriffe der Betriebsmannschaft nicht mehr zu beeinflussen. Die Konsequenz: Zerstörung der Barrieren Reaktordruckbehälter und Gebäude; auch die Reaktion von Grafit (Brand) und Metallen (H2-Erzeugung) mit Wasserdampf, beides bei sehr hoher Temperatur, wird zur Zerstörung und direkten Freisetzung der radioaktiven Edelgase und Aerosole ins Freie beigetragen haben.
Besuch in der Sperrzone Tschernobyl im Juni 2014
Auf dem Weg von Pripjat in die Ortschaft Tschernobyl, die südlich vom Kühlwassersee liegt, sagt unser Tour-Guide an einer bestimmten Stelle: haltet Eure Dosimeter bereit! Und schon geht es los. Im Innern des Kleinbus', der über die Straße rollt, beginnt ein Chor der Alarmtöne zu fiepen. Die Dosis steigt über das Zehnfache des Grenzwertes von 3 Mikrosievert pro Stunde an. Im Bus, wohlgemerkt. Nicht Alpha- und nicht Beta-, nur Gammastrahlung dringt durch Stahlblech, das lernt man bei uns schon in der Schule. Nach 20 Sekunden und 500 Meter weiter ist der Spuk genauso abrupt vorbei, wie er anfing. Und wie es der Zufall will, grasen hier ganz ungerührt im Straßengraben zwei Przewalski-Pferde, eine seltene Spezies, die in der Sperrzone heimisch geworden ist.
Unser Tour-Guide kennt nach den vielen Jahren, die er schon für das Ukrainische Informationsministerium arbeitet, zahllose Stellen, wo die Radioaktivität auf lebensbedrohliche Stärke ansteigt, oft nur innerhalb von ein paar zehn Zentimetern. Hot spots, nennt er die Flecken, die den Alarm aller Dosimeter auslösen, von denen jeder von uns eines bei sich trägt. Es können völlig unscheinbare Flecken Moos sein, wo unsichtbar ein winziges Staubkorn mit voller Kraft vor sich hinleuchtet bis in alle Ewigkeit. Oder der immerfeuchte Fleck unter dem Auslauf einer Dachrinne, wo über Jahrzehnte hinweg mit dem Regenwasser der strahlende Dreck vom Dach abgelagert wurde. Oder ein gewaltiger Greifer aus Stahl, der zwischen zwei eingestürzten Wohnblocks abgestellt wurde.
Um die unvorstellbaren Mengen an Beton an den Ort der Katastrophe zu schaffen, wo über dem kokelnden Reaktorkern in größter Eile ein wetterfestes, strahlendichtes Gehäuse errichtet werden musste, baute man ein ganzes Zementwerk am Rand der Zone und eine Beton-Umladestation kurz vor der Abzweigung nach Pripjat. Die „sauberen“ LKWs von außerhalb fuhren rückwärts eine Rampe hinauf, vier oder fünf nebeneinander, bis zur scharfen Kante am Ende, wo große Trichter aus Stahl aufgestellt waren. Darunter warteten die kontaminierten LKWs, die später auf dem Hochsicherheits-Friedhof für Fahrzeuge und Hubschrauber landeten. Die Rampe steht noch so da, wie sie zuletzt benutzt wurde, die letzten Zentner Beton, die nicht mehr gebraucht wurden, sind zu grauen Tropfsteinen erstarrt, die von den Stahlgerüsten hängen. Die Wendefläche und der staubige Zufahrtsweg lösen sofort den Alarm der Geigerzähler aus.
Wir selbst dürfen die Zone nur in geschlossenen Schuhen, langen Hosen und langärmligen Oberteilen betreten. Die Alpha- und Betastrahlung wird so daran gehindert, unsere Epidermis zu verbrennen. Gegen die Gamma-Ortsdosisleistung helfen sowieso nur die guten alten Strahlenschutzregeln: Aufenthaltszeit kurz, Abstand groß halten. Am ungefährlichsten wäre natürlich, erst gar nicht in die Sperrzone zu fahren. Später, zurück in unserer Unterkunft in Kiew werde ich sofort meine Turnschuhe in den Müll stopfen.
Im Hinterhof der Autowerkstatt ein gelber Bus, halb umgestürzt an einen Baum gelehnt, eine stattliche Birke wächst inmitten eines bröckelnden LKW-Reifens. Vor dem Krankenhaus ein gynäkologischer Behandlungsstuhl, den Scherzbolde vor die Eingangstreppe gezerrt haben. In einem verwüsteten Klassenzimmer ein Berg von Gasmasken, darüber bunt bedruckte Seiten aus Schulbüchern drapiert. Eine Turnhalle, mit Sprossenwänden, hinter denen aus feuchten Mauern Moos und Farne sprießen. Meine Aufnahmefähigkeit stößt an ihre Grenze, ich komme nicht mehr nach mit Gucken, Staunen, Knipsen – und Schaudern. Die Flut bizarrer Schreckensbilder will kein Ende nehmen.
Pripjat war 1970 gegründet worden und bis 1986 eine unbedeutende Stadt mit knapp 50.000 Einwohnern, wie sie in der Sowjetunion routinemäßig aus dem Boden gestampft wurden. Alles war da: eine Polizeistation, eine Feuerwehr mit Wachturm und drei Garagen für die Löschfahrzeuge, ein Schwimmbad mit Sprungturm und großer Glasscheibenfront, ein Krankenhaus, ein Stadion mit Tribüne, Fußballfeld und Tartanbahn, fünf Schulen, zwölf Kindergärten in Betrieb, einer in Bau, da immer mehr Kinder zur Welt kamen. Hier lebte eine wohlhabende, fortschrittsorientierte Atom-Elite, die Bevölkerung hatte ein Durchschnittsalter von nur 27 Jahren, überwiegend Ingenieure und Techniker. Heute ist alles dahin, alles verwüstet. Den Bewohnern gestand man zwei Stunden zu, um ihre Habseligkeiten zu packen, dann mussten sie ihre Wohnungen verlassen. 120 Minuten, ein WM-Viertelfinalspiel mit Verlängerung, um ein vollständiges Leben einzupacken. Sie wurden mit 2.100 Bussen abtransportiert, die aus Kiew und der gesamten Ukraine herbeigeschafft worden waren und eine 20 km lange Schlange bildeten. In äußerster Eile und unter dem gnadenlosen Kommando eines überforderten Generals. Alles Sonstige blieb zurück: Radios, Herde, Geschirr, Möbel, Autos, Fahrräder, Betten, die Haustiere.
Mein Gewissen meldet sich ständig, nicht zuletzt in einem 12-stöckigen Wohnblock, in einer der sowjetischen Vorzeigewohnungen, beim Anblick von mintgrünen Tapeten, die sich von ganz alleine von der Wand gelöst haben und zu Boden gerollt sind. Ich ermahne mich, während der Besichtigung nie zu vergessen, mit welcher Gnadenlosigkeit das Desaster Hunderttausende Leben aus der Bahn warf, die meisten in chronisches Unheil stürzte und etliche vor ihrer Zeit verfallen und sterben ließ. 28 Jahre später spaziere ich fotografierend durch die Schlafzimmer dieser Menschen und bewundere die sozialistischen Holzdielen, mit denen die Fußböden ausgelegt waren, auch wenn sie heute mit einer fingerdicken Schicht Kalk bedeckt sind, der von der Decke rieselt. Ganz besonders aber ermahne ich mich, daran zu denken, dass der feine Staub, der draußen die Straßen und Dächer bedeckt, unter denen früher einmal arglose Menschen ihr Zuhause hatten, aus dem geborstenen Kern eines Atomreaktors stammt.
Do not touch anything! Do not sit down anywhere! Do not put anything in your mouth!
Am Abend ist das Dosimeter bereits ein Gegenstand geworden, der zum Alltag gehört. Wie eine Armbanduhr oder ein Handtelefon trägt man das Ding bei sich, schaut ganz unbewusst regelmäßig auf die Anzeige, erinnert sich ansonsten nur noch daran, wenn der Alarm auslöst. In der Baracke, wo wir essen und übernachten, habe ich im ersten Moment Scheu, etwas anzufassen, nicht einmal das Besteck ist mir geheuer. Hinsetzen geht auch nur mit Überwindung, wiewohl uns glaubwürdig versichert wird, dass dieser Teil der Ortschaft Tschernobyl gründlich dekontaminiert worden sei. So tief hat sich die Lektion, die uns der Tag zwischen verstrahlten Ruinen verpasst hat, eingebrannt.
Ich empfinde Hilflosigkeit, Ohnmacht, Enttäuschung. Der betrogene Glauben, dass Naturwissenschaften, Ingenieurskunst, überhaupt der menschliche Geist die Kontrolle über die Natur erringen könnte. Wie hatte es einstmals in der Sowjetunion geheißen? „Unsere Kernkraftwerke stellen keinerlei Risiko dar. Man könnte sie sogar auf dem Roten Platz bauen. Sie sind sicherer als unsere Samoware“.
Die gefährlichste Fähigkeit des Menschen überhaupt: Selbstüberschätzung.
... und so sieht es heute im Sperrgebiet um Tschernobyl und Pripjat aus
(Bildnachweis: Dr. Dipl. Phys. Theobald Fuchs)