Prof. Linnhoff, in welchen Branchen kann Quantencomputing zeitnah einen Mehrwert bieten?
Prof. Dr. Claudia Linnhoff-Popien: Dazu müssen wir erst über zeitnahe Anwendungsgebiete sprechen. Ich zähle hierzu Simulationen, Optimierungen und Künstliche Intelligenz. Bleiben wir bei der Optimierung. Hier kann man quasi jede Aufgabenstellung, die mit kombinatorischer Optimierung zu tun hat, zu einem schnellen Quantenvorteil führen. Ich betrachte also eine große Menge von diskreten Elementen, wähle daraus eine Teilmenge aus, die Nebenbedingungen entspricht und bezüglich einer Kostenfunktion optimiert werden soll.
Können Sie dies anhand eines praktischen Beispiels veranschaulichen?
Prof. Dr. Claudia Linnhoff-Popien: Betrachten wir die Optimierung von Transportwegen. Nehmen wir einen LKW mit fünf großen Paletten, die in fünf Städte ausgeliefert werden sollen. Für fünf verschiedenen Städte ist die Menge der diskreten Elemente die Menge aller nur denkbaren möglichen Routen fünf Fakultät. Das ist also fünf mal vier mal drei mal zwei mögliche Routen. Ich habe also 120 verschiedene Routen, wie der LKW die verschiedenen Städte abfahren kann. Daraus wähle ich eine Teilmenge aus. Die einfachste Teilmenge ist eine Einermenge, denn ich will ja genau eine empfohlene Route ermitteln.
Außerdem soll diese Route Nebenbedingungen entsprechen. Das ist der Abstand zwischen je zwei Städten, welche aufaddiert die Gesamtlänge der zu fahrenden Strecke ergibt. Um die kürzeste Strecke zu ermitteln, muss diese Route bzgl. einer Kostenfunktion (Benzin, Zeit, Verschleiß) minimal sein – das ist ein klassisches Beispiel der kombinatorischen Optimierung.
Und hier kommt der Quantenrechner ins Spiel?
Prof. Dr. Claudia Linnhoff-Popien: Richtig! Denn der klassische Rechner würde jetzt die Länge aller 120 Routen nacheinander berechnen, um die kürzeste Entfernung zu ermitteln. Das klingt jetzt noch einfach. Allerdings wird diese Berechnung sehr komplex, sobald wir die Zahl der Städte auf z.B. 50 Städte erhöhen. Bei gut 50 Städten haben wir mehr Routen (50 Fakultät) als es Atome im gesamten Weltall gibt. Kein klassischer Rechner wird je 50 verschiedene Städte mit allen nur denkbaren möglichen Routen berechnen können. Ein Quantencomputer jedoch benötigt dafür nur eine Rechenoperation – ein unfassbarer Vorteil für diese Art Problemstellungen.
Und nun ist die Frage: “Wie kann dieser Nutzen auf eine praktische Anwendung übertragen werden?” Sehen wir uns die Fabrik der Zukunft an, wo Roboterarme zum Einsatz kommen. Dort stellt sich beispielsweise die Frage: “Was ist die kürzeste Route, die der Roboterarm, der hintereinander fünf Punkte schweißen muss, auf einem Werkstück wählt?”
Ein anderes Beispiel wäre die Portfoliooptimierung in der Finanzwirtschaft. Auf welche Positionen (Fonds, Aktien, Sachanlagen, etc.) teile ich mein Geld auf, um möglichst große Rendite oder möglichst große Sicherheit zu erhalten?
Oder ein Beispiel aus der Arzneimittelforschung: Welche verschiedenen Wirkstoffe muss ich miteinander kombinieren, um einen gewünschten Effekt (Medikament, Impfstoff, etc.) zu bekommen und Nebenwirkungen zu minimieren? Wo liegt das Optimum?
Sie sehen, die Einsatzmöglichkeiten beschränken sich nicht nur auf eine Branche – die Einsatzgebiete für das Quantencomputing sind branchenübergreifend und bieten enormes Potenzial für die Wirtschaft.